Kapitel 3

189 9 3
                                    

Wir waren eine Stunde mit dem Taxi gefahren. Andreas hatte dem Fahrer bezahlt. Nett von ihm. Dann waren wir noch etwa 15 Minuten zu Fuß unterwegs. Nein, den Weg hatte ich mir nicht gemerkt. Viel zu kompliziert.
Nun standen wir vor irgendeinem interessant gebauten Gebäude.
„Wo sind wir?“, fragte ich. In dieser Gegend war ich nämlich noch nie.
„Mein Büro, sag ich mal.“
Er holte die Schlüssel raus und schloss die Tür auf. Dann folgte ich ihm einen langen Flur entlang, bis er eine weitere Tür öffnete und mich durchgehen ließ. Das, wie es drinnen aussah, würde ich nicht als Büro bezeichnen. Eher sah der Raum wie ein Klassenzimmer aus. Andreas leitete offensichtlich eine Organisation. Geheime Organisation? Vielleicht.
„Wieso ist es hier so leer?“, wollte ich wissen.
„Um diese Uhrzeit müssten alle oben sein.“, antwortete er.
Na gut... Er öffnete eine weitere Tür. Gut, das war wirklich ein Büro.
Ich durfte mich hinsetzen. „Wer sind Sie?“
Er schmunzelte. „Andreas Klemann.“
Ich seufzte. „Ernsthafter bitte.“
„Ich meine es ernst. Stell deine Frage anders.“
„Ich meine, vom Beruf her.“, verbesserte ich mich. “Leiten Sie irgendeine geheime Organisation?“
„Ja.“
Es überraschte mich, wie direkt er mir geantwortet hatte.
„Haben Sie Fähigkeiten?“ Er nickte stumm. „Solche wie ich?“
„Nein, andere.“
„Was für eine Organisation ist das?“
„Eine geheime.“, lachte er.
Ich stöhnte gereizt auf. „Was tun die Leute bei Euch?“
„Viele verschiedene Dinge. Aber hauptsächlich Menschen retten.“
„Woher wissen Sie alles?“
Er zuckte die Schultern. Schade, dass mir Andreas nicht antworten wollte. Wirklich schade. „Wie haben Sie mich gefunden?“
Weiteres Schulterzucken. „Das gehört zu meinen Fähigkeiten. Du muss bei uns unbedingt mitmachen.“
Wie er so einfach die Themen wechselt!
„Ich gehe noch zur Schule.“, entgegnete ich.
„Nicht nur du.“, erwiderte er.
„Hä?“
„Soll ich dir die Anderen vorstellen?“, schlug er nach einem Seufzer vor.
Ich wog den Kopf nach rechts und links. „Wenn es meine Fragen beantwortet.“
„Wird es. Und ich hoffe, du wirst dich für uns entscheiden.“
„Habe ich eine Wahl?“, meinte ich unüberzeugt.
„Nicht ganz.“
„Witzig.“
Wir verließen den Raum. Dieses Gespräch war ja kurz. Hm... Meine Mutter macht sich bestimmt Sorgen um mich.
„Funktionieren hier Handys?“, fragte ich beim Treppenaufsteigen.
„Warum nicht?“, lachte Andreas.
„Das ist ja eine geheime Organisation.“, erklärte ich mit übertriebener Betonung.
„Hm, das stimmt, aber die Handys funktionieren trotzdem.“
Ich schrieb eine SMS an meine Mutter und danach waren wir schon angekommen.
„Erster Obergeschoss. Um 16 Uhr müssten sich alle hier befinden.“, berichtete der Mann.
„Und wie viele seid ihr?“
„Sechs. Ich mitgezählt.“
„So wenige und so ein großes Gebäude? Und sogar eine Organisation?“, wunderte ich mich.
„Ja. Cool, oder?“
Okay, er war doch nicht so nervig. Hm... Ein 4-stöckiges Gebäude für nur sechs Leute? Interessant...
Dieses Stockwerk sah aus wie eine Wohnung. Wir gingen den relativ kurzen Flur entlang. Am Ende gab es eine offen stehende Tür und dahinter einen großen Raum. In einer normalen Wohnung wäre das wahrscheinlich das Wohnzimmer.
Mit dem Rücken zu uns, auf dem Boden im Schneidersitz sitzend, spielten zwei Jungs „Play Station“. Im Schätzen war ich zwar schlecht, aber sie müssten ungefähr 13 und 17 Jahre alt sein.
Andreas trat in die Mitte des Raumes und bedeutete mir, es ihm gleich zu tun. Dann klatschte er dreimal in die Hände. Die Jungs drehten sich zu uns um. Auch in der Tür zeigten sich drei neue Gesichter. Ein Junge, etwa 19 Jahre alt, und junge Frauen, vielleicht 18 und 22.
„Hey, Andy.“, sagte der Junge an der Tür und hob kurz die Hand.
„Du hast also Anna gefunden.“, meinte das ältere Mädchen mit einem fragenden Unterton.
„Ja. Iris, wie oft soll ich's dir noch sagen? Du sollst nicht gleich mit dem Wichtigen anfangen.“
„Entschuldige, war aus versehen.“
Worüber reden die? Und wissen hier denn alle, wer ich bin?!
„Soll ich alles erzählen oder euch Anna überlassen?“, fragte Andreas sein Team.
Ich fand es jedoch ziemlich komisch, dass dieses... Team nur aus Jugendlichen bestand.
„Überlass sie uns.“, sagte der kleinste Junge und alle nickten zustimmend.
„Gut. Anna, wir sehen uns später.“ Andreas verließ das Zimmer und ich sah ihm noch kurz hinterher.
Die Jungs vor dem Fernseher kehrten mir den Rücken zu und spielten weiter. Auch der Eine an der Tür ging wieder weg. Die jungen Frauen blickten sich empört im Raum um.
„Hey! Zeigt mal 'n bisschen Respekt!“, rief die Jüngere unzufrieden.
„Ihr könnt alles selbst machen.“, sagte der ältere Junge beim Play Station-Spielen.
„Leute!“, rief Iris - oder wie auch immer ihr Name war - mit einer festen Stimme. “Mat, Jo, Play Station aus. Toni, zurück hierher.“ Ja, diese junge Frau war älter als alle anderen Leute hier. Aber Andreas nicht mitgezählt.
Der älteste Junge kam wieder ins Zimmer. Toni hatte sie ihn genannt.
„Mat, Jo...“, ermahnte wieder die Älteste. „Ich kann euch auch zwingen. Aber ihr wisst ja, es wird euch unangenehm.“
Die Genannten schalteten den Fernseher aus und drehten sich seufzend zu uns um.
„Du bist nicht unsere Mutter, Iris.“, schmollte der Jüngste.
„Aber ich bin für euch zuständig, wenn Andy nicht da ist.“
Sogar so?
„Leute, wenn ihr nichts dagegen habt... Hey Anna, ich bin Anton. Du kannst mich gern Toni nennen. Gehörst du jetzt zu uns?“ Der junge Mann stand mir gegenüber mit einem Brot in der Hand.
“Nein.“, antwortete ich.
„Hm. Na gut.“ Er zuckte die Schultern mit einem Gesichtsausdruck, als würde er mir nicht glauben. “Damit dir die Namen der anderen klar sind: Die junge Dame, die uns herum kommandiert, ist Iris. Das zweite Mädel ist Elianor, Ely. Der Kleine da ist Matthew, oder auch Mat. Und das letzte Mitglied ist Johan, Jo.“
So viele neue Namen, das würde anstrengend werden, sie zu merken.
“Toni, es wird gleich zwar Essen geben, aber auch egal.“, murmelte Iris.
“Lass mich doch.“, entgegnete Toni frech.
“Hört doch einfach beide auf.“, mischte sich Ely ein. “Wir haben einen Gast. Ihr müsst euch nicht gleich von der schlechten Seite zeigen.“
“Ely, der war gut.“, warf der Kleine - Mat - ein.
Es wäre zu unrealistisch gewesen, wenn sie sich nicht streiten würden. Aber ich hatte Hoffnungen auf das Beste gehabt.
Ich entschied mich, die Aufmerksamkeit wieder auf mich zu ziehen. „Was für eine Organisation ist das?“
„Du hast doch Fähigkeiten.“, vergewisserte sich Ely.
„Woher -“
„Andy hatte es erzählt. Wir alle haben Fähigkeiten.“, erklärte Jo.
„Ihr alle?“, wunderte ich mich.
„Ja. Und da Andy dich hergebracht hat, wirst du bleiben.“, meine Mat.
„Niemand kann mich dazu zwingen oder hier festhalten.“, widersprach ich.
„Stimmt. Aber du wirst trotzdem bleiben.“, bestreitete Toni. “Also uns gefällt's hier.“
Ich war also nicht die Einzige mit Fähigkeiten, sondern es gab noch sechs andere Leute in meiner Stadt. Schön. Endlich jemand, der mich verstehen konnte.
„Ihr kommt also alle aus dieser Stadt?“, wollte ich wissen.
„Nein. Wir kommen sogar aus verschiedenen Ländern.“, erklärte Iris.
„Aber ihr könnt doch alle gut -“
„Deutsch sprechen?“, unterbrach mich Ely. „Wir leben einfach schon lange genug hier. Aber Mat hatte Glück. Er kommt nur aus einer anderen Stadt.“
„Wolltet ihr selbst hierher ziehen?“
Alle nickten. Also freiwillig das Land wechseln? Ich fragte mich, welche Gründe sie dafür haben konnten.
„Wie kriegt Andreas raus, wer wir sind und was wir können?“
„Hat er es dir nicht gesagt?“, wunderte sich Mat.
„Er hat es, stimmt?“, sagte Iris „Guck mal, du könntest doch auch nicht erklären, woher du es hast, welcher Mensch wann und wo und wie stirbt. Andy kann das auch nicht. Und er weiß noch, wozu wir in der Lage sind. Und er kann unsichtbar werden. Aber das hat jeder von uns nur einmal gesehen. Andy hat eigentlich mehr Fähigkeiten, aber wir wissen nicht, welche. Er erzählt uns nicht davon.“
Warte, unsichtbar? Cool.
„Du kannst Gedanken lesen?“, fragte ich Iris.
„Ja. Und die Vergangenheit eines Menschen oder einer Sache erfahren. Und die Menschen zu etwas zwingen.“
Ich blickte zu Toni rüber. Ich fand Iris' Fähigkeiten besser als meine. Mal gucken, was Anton hatte.
„Bei mir ist es ganz cool. Ich beherrsche Telekinese und kann Dinge explodieren lassen.“ Ich sah ihn fragend an. „Ja, eine Berührung und etwas explodiert.“
Dann war Ely dran. „Ich kann jemanden heilen und mache Prophezeiungen durch Bilder, Träume und Trance.“ Ist bestimmt nicht angenehm.
Okay, Jo an der Reihe. „Teleportation und Schutzschild.“
„Schutzschild?“, fragte ich nach.
„Ich kann mich und andere beschützen.“ Etwas Nützliches.
Und jetzt der Letzte: Mat. „Ich kann die Zeit anhalten und lerne das Gleiche mit den Menschen zu tun. Und ich kann gut mit Elektronik umgehen. Sie, zum Beispiel, kontrollieren.“ Gefällt mir auch nicht sehr.
Ich setzte die Fragerunde fort. „Was macht ihr eigentlich in dieser Organisation?“
„Andy hat das auch gesagt. Menschen retten. Und Fähigkeiten kontrollieren lernen. Andy hilft uns dabei.“, meinte Iris.
„Und wenn du doch hier bleibst, wird er auch dir helfen.“, fügte Ely hinzu.
Ich werde darüber noch mal nachdenken. “Mögt ihr das alles?“
„Ja.“, antwortete Toni. „Hier ist es schön. Und jetzt wünsche ich euch noch viel Spaß. Bin in meinem Zimmer.“

Die AuserwähltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt