Sie drehte den Kugelschreiber abwesend zwischen ihren Fingern. Diese Frage schien ihr zu einfach. Vielleicht wollte ihr Dozent ja, dass man dabei um Ecken denken musste, um die Aufgabe richtig zu lösen. Oder sie machte sich zu viele Gedanken. Seufzend legte Heather ihren Kopf seitlich auf das Papier. Alle anderen im Saal schrieben fleißig weiter, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht konzentrieren. Die Prüfungen hinterließen bei ihr einen unbedeutenden Eindruck, bedachte man, dass es Reinkarnationen von ägyptischen Gottheiten und Wächter der Weltentore gab. Und keiner der hier Anwesenden – bis auf Cara – wusste etwas davon. Wie sollte sie dann auf diese nichtigen Fragen antworten, wenn ihr Bilder und Ideen wie ein aufgebrachter Bienenschwarm durch den Kopf schwirrten?
Entmutigt und doch bereit, diese Prüfung so gut es ging hinter sich zu bringen, raffte sie sich wieder auf und brachte ein paar Zeilen zu Papier. Sie hatte nicht viel gelernt – nicht viel lernen können, verbesserte sie sich selbst, doch die grundsätzlichen Punkte konnte sie auflisten. Vielleicht würden dem Dozenten die Details fehlen, aber dafür hatte sie wirklich keinen Kopf. Mit einem dicken Punkt beendete sie ihren letzten Satz und stand rasch auf.
Sie gab recht spät ab, sah allerdings Cara noch immer über den Aufgaben brühten. Ihre Freundin verbrachte die Zeit vor den Prüfungen zwar viel in der Bibliothek, aber nachdem sie Bastet angenommen hatte, musste es in ihrem Inneren recht chaotisch aussehen. Oder eben nicht. Immerhin hatten bei ihr diese schrecklichen Alpträume nachgelassen, was ihr eine gute Portion Ruhe bescherte.
Heather machte sich auf den Weg nach draußen, wo ein kalter Wind über den Campus fegte. Die frische Luft tat ihren hochroten Kopf gut. In wenigen Minuten müsste auch Cara abgeben, ob sie nun fertig geworden war oder nicht. Sie hoffte so sehr, dass sie zumindest die Prüfungen einigermaßen gut bestehen würden. Was ihre Eltern wohl sagen, wenn sie durch mehr als eine Klausur fiel? Begeistert wären sie sicherlich nicht und den Grund dafür könnte Heather ihnen auch nicht verraten. Wer würde es ihr auch glauben, dass ihre Freundin eine Reinkarnation der Göttin Bastet ist und sie eine Wächterin? Selbst für sie war das alles schwer zu begreifen, obwohl sie so viele Abende damit verbrachte, die Informationen zusammenzufassen und zu strukturieren.
Cara hatte ihr nach dem Traum erzählt, dass Bastet die Wächter erschaffen hatte. Sie wollte damit verhindern, dass ein Gott zu viel Macht erlangte und die Welt an sich riss. Die Wächter mussten erst die Tore öffnen, konnten selbst nicht hindurch, aber ohne sie brachte das Tor den Göttern auch nichts. Sie erlangten ihre volle Kraft erst im Himmelsreich. Wie in einem Film, dachte die junge Frau und musste schmunzeln, auch wenn es eigentlich nicht lustig war. Außerdem gehörten die ersten Wächter mächtigen Priestern an, was das für sie bedeutete, blieb allerdings noch schleierhaft. Auf Cara rieselten viele Erinnerungen ein, die ihnen sehr hilfreich waren, aber sie brauchten Zeit, um alles zu ordnen.
»Puh«, hörte sie hinter sich und Cara trat aus der Tür heraus. »Wie lief es bei dir?«
»Nicht so gut«, gab Heather zu. »Die Prüfungen sind irgendwie untergegangen.«
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Gottessplitter
ParanormalEin Forschungsinstitut, das kein Student betreten darf, thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Gelände der Freyer Akademie. Zwei Studentinnen, die unterschiedlicher nicht sein können und nur zu gerne die Geheimnisse des Instituts ergründen wollen. Di...