Ich kauere neben Jesaja und Ash in der hintersten Ecke des Hotels und halte die Luft an. Früher, als wir noch kleiner waren, war hier eindeutig mehr Platz. Das soll jetzt nicht bedeuten, dass einer von uns tatsächlich dick ist, aber die beiden Jungen und ich sind natürlich in die Höhe gewachsen. Eigentlich sind wir alle drei ziemlich schmal. "Frey, hörst du mir zu?" fragt Ash mich und wedelt mit der Hand vor meinen grünen Augen herum. "Was? Ich hatte auf Durchzug geschaltet, sorry", erkläre ich, als mein Kumpel mich etwas angesäuert ansieht. Er mag es nicht, wenn man ihm nicht zu hört. Jesaja verdreht die Augen und erwidert: "Erzähl einfach weiter, Ash". Dieser Aufforderung kommt mein Kumpel grinsend nach. "Nein, ich sag euch, Lily war wirklich niedlich. Schade, dass sie kein Savant ist". Ash glaubt im Gegensatz zu Jesaja und mir an einen Seelenspiegel, das genetische Gegenstück. Wenn ihr mich fragt, ist das nur ein Märchen, zu schön, um wahr zu sein. Jes und ich wechseln einen genervten Blick. Wir sind es zwar gewohnt, das Ash daran glaubt, aber es tut weh, ihn so hoffen zu sehen und zu wissen, dass es nicht stimmt. Ich mag eine sehr gläubige Christin sein, aber an Märchen glaube ich nicht. Es ist wie mit Halloween. Man weißt nicht, wo dieser Brauch herkommt und doch wird er besonders in Amerika gefeiert. Ich verstehe Ash immer hin bis zu einem bestimmten Teil, aber ganz durchschaut habe ich ihn nicht. Wobei ich allerdings glaube, dass Jesaja Ash und mich durchschaut, egal, was wir auch versuchen. Er ist es auch, der immer sofort merkt, wenn etwas nicht stimmt. Ich spüre, wie Jesaja mich aus wachen, tief dunkelblauen Augen mustert. Als ich den Blick auf ihn richte, hebt er eine seiner dichten, schwarzen Augenbrauen und schaut hinüber zu Ash, der immer noch erregt von Lily erzählt. Ihre Haare duften? Mein Blick zuckt zurück zu Jes, der das Gesicht verzieht. Soll das bedeuten, dass er an ihren Haaren geschnuppert hat? frage ich mich mit undefinierbarem Gesichtsausdruck. Naja, entweder das oder dieses Mädchen benutzt ein sehr blumiges, geruchintensives Shampoo, murmelt Jes. Er interessiert sich nicht für Mode und hat nichts mit Cremes am Hut. Verständlich, wenn man sich das Zeug, was sich reiche und meistens verzogene Gören alles leisten, nicht kaufen kann. Wir müssen einige unangenehmen Arbeiten verrichten, um uns unseren Lebensunterhalt zu verdienen, denn die Arbeit, die wir hier im Hotel bekommen, ist nicht gut bezahlt. Es ist normal, Menschen mit Hilfe unsere Gaben zu Dingen zu bewegen, die sie nicht tun wollen. Es ist normal, niemandem vertrauen zu können. Ich stütze mein Kinn auf der Hand ab und schließe müde die Augen. Erst letzte Nacht habe ich wieder raus gemusst, um bei der Lieferung von Ware zu helfen. Irgendwelche super teuren Zigaretten, die unter dem Codenamen die Ziege heißen. In England muss man für die eigentlich sehr viel Geld hinblättern, plus Tabaksteuer und was weiß ich noch alles. Gut, dass ich nicht rauche. Keiner meiner Freunde raucht. Ist viel zu teuer und zum anderen total schädlich. Ich verstehe die Kunden nicht, so viel Geld für Dinge aus zu geben, die die Lunge, Mund, Rachen und Nase, Nebenhöhlen zerstören. Lange werden sie nicht mehr zu leben haben, wenn sie so weiter machen. Gedankenverloren schüttle ich den Kopf. "Frey!" Ash packt meine Schultern, woraufhin ich ihn nur müde anblinzle. "Du glaubst also, Lily könnte möglicherweise doch ein Savant sein?" Mir tut es in der Seele weh, meinen Kumpel so glücklich zu sehen, wegen eines albernes Märchens. Hoffentlich hat sich seine Gabe nur nicht wieder von selbst eingeschaltet, sagt Jes traurig. Ash ist ein Mädchenheld, keine Frage, aber durch seine savantische Gabe verstärkt sich das noch. Er bezaubert andere - wenn er will sogar Türen. Seine Gabe lässt sich sehr gut ausbauen, etwas, was ich von meiner Begabung nicht sagen kann. Ich sehe die wichtigste Erinnerung eines Menschen, insofern ich ihn berühren kann. Nützlich, aber nicht unbedingt sehr ausbaufähig. Ash fährt sich durch das weiche, kastanienbraune Haar, das er wie immer lässig verstrubbelt trägt. "Frey, du solltest aufpassen. Soweit ich weiß, ist Severin nicht wirklich glücklich mit dir", erklärt Ash mir leise, dringlich. "Ich glaube nicht, das der irgendwen wirklich mag. Aber danke für die Warnung. Wir sollten wieder an die Arbeit", erkläre ich und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr, die vermutlich falsch geht. "Geht sie wieder falsch?" fragt Jes und zieht sein Handy hervor, er ist der Einzige, der von uns eins besitzt. Ein ultra modernes ist es vielleicht nicht, aber auch nicht uralt. "Bei mir ist es 18:07 Uhr. Bei dir?" Ash beugt sich vor zu Jes, linst auf dessen Display und erwidert: "Bei ihm ist es gerade einmal knapp nach 17 Uhr". Ich stöhne auf und beginne meine Uhr zu stellen. "Frey, bist du eigentlich in Ordnung?" fragt Jesaja und blickt mit seinen dunklen, tiefblauen Augen auf mich herunter. Ich sehe ihn an und erwidere: "Wieso? Stimmt etwas nicht?" Er hat natürlich recht, mir geht es momentan nicht so prickelnd, aber das sage ich natürlich nicht. Mein Kumpel mustert mich argwöhnisch. "Nein, war nur so eine Vermutung". Sein Blick straft seiner Worte Lügen. Es ist keine Vermutung, sondern eine Tatsache. Was ist los? fragt er mich via Telepathie. Nichts. Jesaja hebt ungläubig eine Augenbraue. Da habe ich schon bessere Lügen gehört. Ashs Blick huscht unruhig zwischen Jes und mir hin und her. "Das etwas nicht stimmt, merkst du erst jetzt, Jes? Du lässtst nach, mein Freund", murmelt Ash. Stimmt ja, er hat mich vorhin auch danach gefragt. Ist es so offensichtlich, dass ich wieder einen seelischen Tiefpunkt habe? "Mir geht's gut, Jungs". Ash dreht mir den Kopf zu und murmelt: "Du lässtst auch nach. Früher warst du eine bessere Lügnerin". "Oder du wirst einfach besser", murmelt Jes und streckt seine langen Glieder. "Wie auch immer, Frey, wenn du es uns erzählen willst, wir sind da. Ich gehe mal in die Küche und sehe nach, ob sie mich brauchen können. Kommt jemand mit?" Ich schüttle den Kopf und auch Ash wirkt nicht so, als ob er Lust hätte. "Ich sehe mich mal um, ob ich beim Kuchen austeilen helfen kann. Da sind es ohnehin meistens zu wenige". Ich marschiere davon, bevor mich einer der Jungs aufhalten kann. Sie sind schon wirklich süß, sich Sorgen um mich zu machen, aber hier, in einem Leben wie diesem, ist das eher schlecht als gut. Es sind immer die Verräter, die Vertrauen wecken.
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Catching Freya
ParanormalFreya lebt, seit sie klein ist, in der Gemeinschaft gefährlicher Savants und ist es gewohnt, bei Raubüberfällen oder Drogendelikten dabei zu sein. Dann geht ein eigentlich harmloser Auftrag unerwartet schief und Freya stolpert in die offenen Arme vo...