Kapitel 6

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Ich verstehe gar nichts mehr. Seelenspiegel gibt es? Was für ein Unsinn. Und mein Retter, der übrigens Bellamy Black heißt, soll mein Seelenspiegel sein? Ich schüttle den Kopf. "Das gibt es ja wohl nicht". Aus meiner Fassungslosigkeit wird Angst. So wenig ich auch glaube, dass er wirklich mein Seelenspiegel ist, so sehr habe ich doch das Bedürfnis, ihn zu beschützen. Ich muss fort von hier. Weg von Bellamy. Es ist immerhin besser, als dabei zu sehen zu müssen, wie er in die Fänge von meiner Gemeinschaft gerät. Ich werde einen Neuanfang wagen, Ash und Jesaja mitnehmen und erst zurückkehren, wenn er wirklich sicher ist. Wenn ich ihm nicht wehtun werde. Aber noch bin ich zu schwach, um unbemerkt verschwinden zu können. In meinem Inneren rebelliert alles gegen mein Vorhaben, aber ich weiß, dass es besser für ihn ist. Für sie alle ist es besser, wenn sie noch keinen Kontakt zu mir haben. Ich habe inzwischen mindestens 5 mal versucht, an Jes' Mentalbarriere vorbei zu kommen. Aber sie ist so dick wie die Mauern vom Castle Winsor. Typisch. Dann werde ich wohl warten müssen, bis er sie ein bisschen runterfährt. Naja, Av und Shy, die Seelenspiegel der beiden jüngsten Black-Brüder, sind sehr freundlich. Mein Seelenspiegel hat sich in sein Zimmer zurück gezogen. Er braucht Zeit für sich und das verstehe ich auch. Ich brächte auch Zeit, wenn ich feststellen müsste, das mein Seelenspiegel ein Verbrecher ist und obendrein nicht an das Gegenstück der Seele glaubt. Ich bin schlecht für ihn. 

"Freya?" Av wedelt kurz vor meinen Augen herum. Ich blinzle verwirrt. "Was?" frage ich. "Du bist mit den Gedanken woanders, oder?" fragt Ansel, der neben mir sitzt. Ich zucke leicht zusammen. "Ja". Verlegen reibe ich mir den Nacken. Ansels Blick wandert in Richtung von Bellamys Zimmer. "Rede doch mal mit ihm". Auch Nick, der jüngste Bruder, nickt bekräftigend. "In Ordnung". Ich stehe auf und gehe möglichst selbstbewusst in die Richtung von Bellamys Zimmer, aber in meinem Inneren spüre ich die Unruhe. Leise öffne ich die Tür zu seinem Zimmer und schlüpfe hinein. Er hebt den Kopf, als ich den Raum betrete. Ich hatte nie das Gefühl, das mein Retter verletzlich wäre, aber im Moment blickt genau das entgegen. "Hey, ähm...ich...", stottere ich. Was ist denn jetzt los? Ich stottere nicht - nie. Ich hole tief Luft und erkläre dann mit festerer Stimme: "Ich denke, wir sollten reden". Ich sehe ihn an. Warte auf eine Antwort. "Damit hast du vermutlich Recht. Wie gehen wir weiter vor?" "Ich muss erst einen Neuanfang wagen. Da, wo ich im Moment lebe, ist es zu gefährlich für dich und mich. Ich werde wieder kommen, sobald ich weit genug von der Gemeinschaft weg bin - körperlich und seelisch. Es wäre sonst zu gefährlich". Bellamy springt auf. Seine braunen Augen färben sich dunkel. "Du willst also verschwinden, ja?" Ich höre die Wut in seiner Stimme darüber, dass ich vor ihm zu fliehen versuche. "Ja!" fauche ich zurück. Ich spüre ebenfalls die Wut in mir hochkochen. Er hört mir nicht einmal zu! "Du willst fliehen, ja?" "Verdammt nochmal ja, wenn du nicht damit aufhörst!" schreie ich und mir ist egal, ob mich irgendjemand hört. Bellamy kommt auf mich zu und der normale Menschenverstand hätte ich mich eigentlich zu weichen lassen müssen, aber ich bleibe stehen. Ich würde mich nicht einschüchtern lassen. Nicht von ihm. Ich habe so viel schlimmeres gemacht - da versetzt mich ein wütender Polizist nicht einmal mehr in Aufregung. Ich funkle zu ihm auf. Niemand setzt sich meinem Seelenspiegel. Nur ich. "Ich werde mich nicht einsperren lassen", knurre ich. "Ach nein? Und was mit der Gemeinschaft? Von der lässt du dich anketten wie ein Hund!" knurrt er. "Das ist was komplett anderes!" entgegne ich laut. "Tatsächlich, ja?" Seine Augen funkeln gefährlich. "JA! Aber das verstehst du nicht! Du verstehst mein ganzes Leben nicht", fauche ich. "Mag sein. Aber sei gewiss: Ich werde nicht zu lassen, dass du so einfach wieder verschwindest. Ich habe dich gerade eben erst gefunden und du redest schon wieder von abhauen!" Ich balle die Hände zu Fäusten. "Ich habe dir gesagt, warum ich das mache, verdammt!" Ich höre sein wütendes, abfälliges Schnauben, als ich die Tür hinter mir zu knallen lasse. Die Köpfe von Ansel, Avara, Shae und Nicolas drehen sich zu mir um. "Wie lief...?" setzt Nicolas an, aber ich fauche: "Frag einfach nicht, klar?!" Ich drehe mich um und funkle ihn wütend an. Ein erschrockener Gesichtsausdruck zuckt über das Gesicht des Jungen, dann zieht er die Augenbrauen zusammen und funkelt mich ähnlich wütend an wie ich ihn. Ich schnaube abfällig, drehe mich wieder um und marschiere mit hocherhobenen Kopf davon. Die können mir alle gestohlen bleiben!

Nachdem ich in dem Gästezimmer, das sie mir zur Verfügung gestellt haben, verschwunden bin, zermartere ich mir mein armes Hirn darüber, wie ich hier wegkomme. Ich bin hier ohnehin nicht erwünscht! Pah, denen würde ich es zeigen. Ich boxe in mein Kissen, um abzureagieren. Einmal, zweimal. Danach höre ich auf zu zählen. 

Es muss früh am Morgen sein, als ich höre, wie sich die Tür zu meinem Zimmer leise, aber nicht lautlos, öffnet. Schwere Schritte bewegen sich langsam, möglichst leise, auf mich zu. Wäre ich in meinem Schlafzimmer in der Gemeinschaft gewesen, wäre ich spätestens jetzt aufgesprungen. Aber dem ist nicht so. Ich bin in Sicherheit. Die Black-Brüder wollen mir nichts tun. Weder sie noch ihre Seelenspiegel. Ich entspanne mich so gut es geht und atme tief. Der Blick der Person ruht auf mir, ruhig, fast sanft. Ich spüre, wie mir die Person die Haare aus der Stirn streicht. Eine warme Hand legt sich vorsichtig an meine Wange. Mindestens genauso warme wie weiche Lippen berühren für ein paar Sekunden meine Stirn. Bellamy. "Schlaf weiter", flüstert er leise. Ich öffne kurz die Augen, blinzle meinen Seelenspiegel schläfrig an und schließe sie wieder. Bells Hand verschwindet von meiner Wange, seine Schritte entfernen sich langsam. Ich warte noch, bis er ganz weg ist, dann stehe ich auf, ziehe mir meine Sachen von gestern Abend über und verschwinde lautlos wie eine Katze. Leise fällt die Wohnungstür hinter mir zu. Ich hüpfe die Treppe hinunter und kaum habe ich das Hochhaus verlassen, beginne ich zu rennen. In welche Richtung ist mir egal, nur weit genug weg von Bell. Sobald ihm in meiner Gegenwart nichts mehr geschehen kann, werde ich zurück kehren. Hoffentlich wartet er auf mich.

Catching FreyaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt