Es würde bald soweit sein. Shae hakt sich bei mir und wir verlassen gemeinsam das Gebäude. Hoffentlich haben Ash und Jes es möglichst in alle Gemeinschaften getragen. Wenn als gut läuft, wird Shae morgen um diese Zeit ein freies Mädchen sein. Ich sehe Nick an und er gibt mir mit einem Zwinkern zu verstehen, dass er bereit ist. Kieran lächelt aufmunternd in Shaes Richtung. Sie scheint sich auch nicht sicher zu sein. Av schaut Shy und mich fragend an und wir ringen uns ein offenes Lächeln ab. Das Adrenalin sorgt dafür, dass ich alles ganz genau wahr nehme - die warme Hand meines Seelenspiegels an meiner Taille, das unruhige Zucken an Nicks Kiefer, das Öffnen und Schließen von Keys Faust. "Wir waren lange nicht mehr alle unterwegs", sagt Ansel und seine nachtblauen Augen blitzen auf. Shae lächelt ihn an und ich sehe die Furcht in ihren dunklen Augen. Es wird schon alles gut gehen, beruhige ich sie. Was wir vorhaben, erwähne ich mit keinem Wort, da es zu gefährlich ist, wenn Bell mir so nah ist. Ich werde es ihm erzählen, wenn alles vorüber ist. Frey, ich weiß schon ewig, was ihr plant, unterbricht Bell meinen Gedankenfluss. Ich zucke zusammen, aber sein Gesicht zeigt keine Regung. Wie lange? frage ich mit zittriger Stimme. Als ich dich von meinem Boxsack lösen musste. Ich wusste, dass es keine Lüge war, was du mir erzählt hast - das hätte ich gespürt- , aber es musste mehr dahinter stecken. Sonst wärst du deswegen nicht in Tränen ausgebrochen. Also habe ich nachgeforscht, sagt Bell. Du hast in meinem Kopf herum gestöbert und mich in dem Glauben gelassen, du hättest keine Ahnung? Ich weiß, dass ich nicht das Recht habe verletzt zu sein, aber ich bin es trotzdem. Ich hielt es für besser, wenn du es erst jetzt erfährst. Aber ich bringe dich um, wenn dir was passiert, hast du mich verstanden? schwört Bellamy und sieht mich bestimmt an. Das Gleiche gilt auch für dich. Und es wird nichts passieren. Nick erzeugt nur eine Illusion, sage ich und lege soviel Euphorie in meine Stimme, wie ich aufbringen kann. Du lügst dich gerade selbst an, Frey, entgegnet Bell und seine Stimme klingt müde. Ich weiß. Aber einer von uns muss die Hoffnung besitzen, dass alles gut wird, seufze ich. Bitte tu das nicht, Frey. Sag den anderen, dass du es dir anders überlegt hast, fleht Bell. Ich kann nicht, wispere ich. Warum nicht? Du musst ihnen nur sagen, dass du nicht willst! Bellamy ist richtig verzweifelt und ich kann spüren, dass er hin und her gerissen davon ist, auf mich wütend zu sein und mich beschützen zu wollen. Ich tue es nicht um meinetwillen, Bell. Ich bin eine Gefahr für dich und deine ganze Familie und Shae geht es nicht anders. Wir wollen nicht, dass euch etwas geschieht und da stehe ich voll und ganz auf ihrer Seite. Sie möchte ein normales Leben mit Ansel führen und ich kann es ihr nicht abschlagen, weil ich es auch will. Ich will ein normales Leben, ohne den Schatten der Gemeinschaft. Und Jes und Ash auch, sprudle ich hervor. Du tust das alles für den Seelenspiegel meines Bruders? fragt mein Seelenspiegel ungläubig. Ja. Sie und Av waren gut zu mir, obwohl sie wussten, woher ich kam und was ich war - eine Verbrecherin. Und für Key, Nick, An und dich gilt das auch, sage ich. Ich kämpfe mit den Tränen. Jetzt verstehe ich, haucht Bell. Du tust das nicht nur für Shae. Du glaubst, wenn du das machst, würden wir dich erst richtig in die Familie aufnehmen, habe ich Recht? Das ist genau das, was ich mir wünsche. Und mein perfekter Seelenspiegel hat es bemerkt. Ich sage nichts dazu. Wir haben dich doch schon längst als Familienmitglied aufgenommen, redet Bell auf mich ein. Du kannst es abblasen. Ich sehe ihn an und schüttle den Kopf. Nein. Shae wird immer darunter leiden, dass sie die Tochter von McAdams ist, wenn wir es nicht beenden, sage ich und spreche damit das aus, woran ich mich mit meiner ganzen Seele klammere. Frey, bitte. Noch kannst du es stoppen. Wenn wir erstmal da sind, musst du es durchziehen, redet mein Seelenspiegel mir ins Gewissen. Es wird allen gut gehen, erwidere ich und lächle. Das letzte Mal, bevor es losgeht. Ich drücke Bells Hand, die auf meiner Schulter liegt. Frey, sag Shae, dass sie es lassen soll! schreit plötzlich Ansel in meinen Gedanken. Er weiß Bescheid. Wir haben eine Entscheidung gefällt. Es ist alles durchgeplant. Vertrau deinem Seelenspiegel, sage ich mit fester Stimme zu Shaes Seelenspiegel. Ich mache dich verantwortlich, wenn ihr etwas passiert! schreit Ansel, außer sich vor Angst um Shae. Bell, halt ihn fest, wenn Shae sich von ihm löst, bitte ich meinen Seelenspiegel. Wen? An? fragt er, sofort in seiner Beschützerrolle. Er hat verstanden, dass er mich gehen lassen muss, wenn mir nichts passieren soll. Ja, sage ich einfach und lasse langsam Bells Hand los. Ich sehe Ash und Jes im Hintergrund warten. Shae küsst Ansel auf die Wange, bevor sie ihn los lässt und Bell ihren Platz einnimmt. Bellamy legt seinem jüngeren Bruder den Arm um die schmächtigen Schultern, damit er nichts Unüberlegtes tun kann. Ich lächle und laufe voraus, sodass es ganz normal aussieht. Als wären Shae und ich einfach nur schneller als die anderen. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe wie sich Nicks Augen von dunkelgrün so grell verfärben, dass es mir in den Augen brennt, wenn ich ihn ansehe. Die Illusion ist perfekt. Doch dann fällt ein Schuss. Ich drehe mich um die eigene Achse und sehe, wie eine Kugel auf Shae zu rast. Ich bin mit wenigen Schritten bei ihr und packe sie, damit ihr nichts geschieht. Ein stechender Schmerz fährt durch meine Schulter und ich schreie auf, als ich Shae mit einem Arm an mich drücke und den anderen auf die Schusswunde presse. Sie, die perfekte Schauspielerin, sinkt an meiner Schulter zu Boden. Ich spüre Tränen der Wut und des Schmerzens, als ich mich neben sie fallen lasse. Den Kopf zur Seite gelegt, liege ich da und starre auf Shae, die gerade in dem Moment die Augen schließt, als der Rest der Familie auf uns zu gestürmt kommt. Ich bleibe ebenfalls regungslos liegen und atme gleichmäßig. Wir haben es geschafft. Ich beiße mir auf die Lippe, als Bell mich auf seinen Arm hebt und mit mir im Eiltempo verschwindet. Im Hintergrund nehme ich vage Avs Schluchzen wahr.
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Catching Freya
ParanormalFreya lebt, seit sie klein ist, in der Gemeinschaft gefährlicher Savants und ist es gewohnt, bei Raubüberfällen oder Drogendelikten dabei zu sein. Dann geht ein eigentlich harmloser Auftrag unerwartet schief und Freya stolpert in die offenen Arme vo...