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Ayla
Ob es wehtun wird? Werden sich Mom und Mama große Sorgen machen? Werde ich etwas spüren? "Hey, hörst du mir überhaupt zu?" Milena reißt mich aus meiner paranoiden Gedankenwelt. "Tut mir Leid, was sagtest du noch gleich?" Meine Stimme versagt, so heiser ist sie. Kein Wunder, denn den ganzen Tag schon hatte ich meine weißblonde Freundin vollgeweint. Echt bewundernswert wie sie mich aushält. "Ich hab gefragt, ob dir die hier gefallen." Sie hält mir ein Paar Tanzschuhe hin. "Ich weiß nicht ..." murmele ich. An sich sind alle Schuhe hier schön, doch was haben sie für einen Zweck, wenn ich die nächsten Wochen sowieso keinen Sport treiben darf? Morgen werde ich operiert und danach bin ich erstmal nicht mehr zu gebrauchen. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie stressig das Alles für meine Eltern wird ...
"Darf ich dich mal etwas fragen?" will Milena wissen, als wir zurück zu mir nachhause laufen. "Klar."
"Glaubst du, dass andere in deinem Alter es seltsam fänden, wenn du ihnen erzählst, dass du zwei Mütter hast?" Interessante Frage. "So weit wird es eh nicht kommen. Meine besten Freunde sind du und meine Mütter, also wer sollte mich so etwas schon fragen?" Ich klinge zickig, doch so war es nicht gewollt. Der nervige Teenager lebt im Moment in mir. Ich kann mich weder richtig auf etwas konzentrieren, noch kann ich wirklich nett sein. "Stimmt, hast Recht ..." meint Milena, als wir die Treppen zum Haus hochgehen.
Ich dachte eigentlich immer, dass ich das perfekte Leben hätte. Meine Eltern sind die liebenswürdigsten Menschen die ich kenne, wir leben in einem großen wunderschönen Haus umgeben von Feldern und Wald, ich werde ständig dafür gelobt wie klug und hübsch ich doch bin und trotzdem ist mir das Alles plötzlich gleichgültig. An dem Tag, als ich endlich meinen Traum verwirklichen wollte, brach alles über mir zusammen. Der Krebs zerstört nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele. Zwar ist er noch nicht so weit fortgeschritten, dass man es nicht operieren könnte, doch wer verspricht mir, dass nach der Operation alles gut wird? Was ist, wenn ich einen Rückfall bekomme? Was ist, wenn er meine anderen Organe angreift? Was ist, wenn er mir meinen Körper nimmt, den ich zum Tanzen brauche? Außerdem belastet er nicht nur mich, sondern auch meine Familie. Meine Mama hat mir schon so oft erzählt, wie schwer sie es in ihrer Jugend hatte und froh darüber wäre, wie glücklich sie jetzt mit mir und Mom ist. Die Diagnose hatte sie fast umgebracht. Sie bekam einen Nervenzusammenbruch, als meine Mom sie aus dem Krankenhaus anrief. Das Krankenhaus. Es gibt keinen schlimmeren Ort für mich. Mir ging es sonst immer bestens und trotzdem war ich oft da, wegen meinen Eltern. Sie beide sind Ärzte, einmal im physischem und im psychischen Bereich. Deshalb kennt mich auch das komplette Personal dort unter dem Namen 'Das perfekte Kind von Lady und Rose'. Ich weiß nie, ob ich das als Kompliment sehen soll oder ob es mich einfach nur nervt. Ich möchte doch perfekt sein, ich bin eine totale Perfektionistin! Aber das geht nicht, wenn dieses Ungeheuer in mir drin lauert.
"Ayla?" Ich schrecke zusammen. "Mama, du hast mich voll erschreckt!" maule ich, als ich ihre kalten Hände auf meinen Schultern spüre. "Tut mir leid, war keine Absicht. Ich wollte dir nur sagen, dass Milena längst weg ist. Du warst so sehr weggetreten, da wollte sie schon nachhause und dich in Ruhe lassen." erzählt sie mir und setzt sich neben mich auf die Couch. "Oh ..." Wie gemein von mir, ich hätte sie wenigstens verabschieden können. "Hast du Angst?" fragt mich meine Mama mit einem liebevollen aber auch besorgten Gesichtsausdruck. Ich lasse meinen Kopf hängen und starre aus dem Fenster. Es ist schon dunkel geworden und ich habe nichts gemerkt. Ich denke zu viel nach. "Ja ..." nuschele ich, worauf sie mich zärtlich an sich drückt. "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Deine Mom wird bei der Operation dabei sein und wie ich sie kenne, wird sie bei jeder kleinen falschen Bewegung einen Wutanfall bekommen. Die anderen Ärzte werden also sehr vorsichtig sein." kichert sie und ich stimme mit ein. "Mama?"
"Mh?" Sie blickt mich fragend an. "Wolltest du mich damals überhaupt? Als Mom dir sagte, dass sie sich ein Kind wünscht?" Ihre Arme drücken mich fester an sie und ich kann hören, wie ihr Atem unregelmäßiger wird. "Naja, also ehrlich gesagt, war ich ziemlich überrumpelt damit. Besonders, weil du ja nicht so einfach auf die Welt gekommen warst wie andere Kinder. Ich hatte Angst davor, sehr große Angst. Ich hatte Angst davor, dass alles schief gehen würde. Dass du vielleicht krank oder gehandicapte zur Welt kommst, denn im Grunde warst du für die anderen Ärzte ja nur ein sehr großes Experiment. Das war auch etwas, was mich so sehr daran störte. Dass sie dich alle nur als gelungenes Experiment sahen und nicht als den wunderbaren Menschen, der du bist. Ich war stinksauer, als deine Mom ständig damit angegeben hatte." Ich verinnerliche ihre vielen Worte und lasse sie mir noch ein paar Mal durch den Kopf gehen. "Glaubst du, dass Mom mich nicht so sehr geliebt hätte, wenn ich nich so wäre wie jetzt? Wenn ich krank oder gehandicapte gewesen wäre?" Ungewollt rollen mir Tränen über die Wangen, doch meine Mama fängt sie auf, bevor sie überhaupt mein Kinn erreichen. "Natürlich hätte sie das! Auch wenn deine Mom die verwöhnteste, zickigste und angeberischste Frau ist, die ich kenne. Sie würde dich immer lieben, egal was passiert. Du bist schließlich unser ganzer Stolz und das nicht nur, weil du in den Augen der anderen so perfekt bist. Sondern, weil du in unseren Augen immer perfekt bist. Du bist unser Kind." Auch sie weint nun und ich halte ihre Tränen auf. Vor meiner Diagnose war ich nie so emotional, wie ich es jetzt bin. Ich hatte mich auf so viel Materielles konzentriert anstatt auf Gefühle. Jetzt bin ich voll damit. "Spielst du mir was vor?" Ich liebe diese Frage. Sofort springe ich auf und setze mich an den großen schwarzen Flügel, der auf einer Erhöhung im Wohnzimmer steht. Jedes Mal, wenn ich mich auf den kleinen Hocker setze, kann ich meine Finger nicht mehr zurück halten und lasse sie über die Tasten tanzen. Klavier spielen war das Erste, womit ich meine Eltern wirklich glücklich machen konnte, deshalb macht es mir auch ungemein Spaß.

To the moon and backWo Geschichten leben. Entdecke jetzt