10

946 54 2
                                    

Ayla
Ich hätte es mir anders überlegen sollen. Vielleicht war es doch keine gute Idee hierher zu kommen. Mein Blick fällt auf die Uhr. 23:30 Uhr. Jason, Mieze, Eloise und all die anderen, deren viele Spitznamen ich mir nicht merken kann, sind allesamt blau. Irgendwann habe ich die Vodkashots und Mischungen gar nicht mehr mitgezählt. Außer bei Eloise. Bei ihr habe ich genau darauf geachtet. Um genau zu sein 7 Shot, zwei Gläser Vodka-O und ein paar Schlücke aus der Jack Daniels Flasche von Jason. Dazwischen bin ich ein paar mal mit ihr raus, damit sie eine rauchen konnte. Wie kann es sein, dass sie sich immer noch nicht übergeben musste? Ich weiß ehrlich nicht, ob ich Respekt davor haben oder mir Sorgen über eine mögliche Alkoholvergiftung machen sollte.
Jedenfalls ignoriert sie mich jetzt schon seit ich das letzte Mal mit ihr draußen war. Sie hat sich einen von Mieze's Manga genommen und liest.
"Warum denn so ruhig, Süße?" Mieze setzt sich zu mir auf ihr Bett und legt den Arm um mich. Ihr von Alkohol geschwängerter Mundgeruch sticht mir in der Nase, aber aus Höflichkeit drehe ich meinen Kopf nicht weg. Ich will nachhause. Mit zuckenden Schultern sehe ich sie an. Ihre großen, braunen Glubschaugen sind gruselig. "Du musst lockerer werden. Trink wenigstens ein Glas Vodka-O." lallt sie und reicht mir den Orangensaft und eine Flasche Vodka. "Lass sie, das traut sie sich nicht." kommentiert Eloise, ohne von ihrem Manga aufzusehen. Bitte was? Glaubt sie ehrlich, ich bin so feige? "Gib mir dein Glas." Mutig strecke ich meinen Arm nach ihr aus. Verdutzt schaut sie auf. Ist das ein Hauch von Besorgnis in ihren blauen Ozeanen oder irre ich mich? "Nein."
"Wieso nicht?"
"Du sollst nicht trinken." begründet sie. "Ich kann das. Glaubst du wirklich, ich wäre zu schwach dafür?"
"Nein, aber ..." Eloise seufzt, nimmt ihr Glas und hält es mir entgegen. Ich ergreife es mit einem triumphierenden Lächeln, als hätte ich gerade einen Pokal gewonnen. "Aber nur ein Glas!" schimpft sie. "Aber natürlich, Boss." gebe ich lachend zurück. Ein schiefes Grinsen huscht über ihre Mimik. Ich liebe diesen Blick an ihr. Mieze schüttet einen Schluck Vodka ins Glas und füllt den Rest mit Orangensaft auf. "Willkommen auf der dunklen Seite." kichert sie übertrieben, als sie mir das Glas reicht. "Ihr seid allesamt verrückt." Ich zögere für einen Moment, doch dann trinke ich das Glas mit ein paar Zügen aus, damit ich es schnell hinter mir habe. Der bittere Geschmak zergeht auf meiner Zunge und lässt mich erschaudern. "Und?" Eloise betrachtet mich misstrauisch. "Ich spüre noch nichts. Das ist ja voll langweilig." zicke ich und will wieder nach der Vodkaflasche greifen, doch Eloise packt mein Handgelenk. Erschreckt schnappe ich nach Luft. Ihr Griff ist fest, aber er tut nicht weh. Sie hat mich einfach nur überrascht. "Ein Glas reicht. Warte ein bisschen, dann wirkt's schon." meint sie und lässt mich wieder los. "Okay ..." Warum lasse ich mich von ihr herum kommandieren? Ich kann machen was ich will. "Ist dein Bruder da?" Eloise schaut zu Mieze, die sich alkoholtrunken und gickelnd in die Bettdecke kuschelt. "Nein, du kannst ruhig in seinem Zimmer schlafen." antwortet sie. "Gut, ich geh dann mal. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf. Und du, übertreib es nicht." Mit gefrorenen und blauen Augen wirft sie einen Blick auf Jason, der mit dem pinkhaarigen Mädchen flirtet. "Ja ja." Er zuckt mit dem Mundwinkeln nach oben und Eloise erwidert es.
Als sie ihren schwarzen Rucksack nimmt und zur Tür geht, schreit mein Inneres nach ihr. Sie soll hier bleiben. Sie soll bei mir bleiben! Ich bin doch nur wegen ihr hier. Mit einem Ruck hebe ich mich vom Bett und folge ihr aus dem Zimmer. "Was ist los?" fragt sie, ohne hinter sich zu schauen. "Warte." Quengelnd laufe ich ihr hinterher. Meine Beine fühlen sich plötzlich schwerer an und ein leichter Schwindel dringt durch meinen Körper. Das Seltsame ist, es fühlt sich gut an. Es fühlt sich warm an. Ich mag das. Sie wartet nicht, sondern läuft weiter den Flur entlang. "Ich hab gesagt warte!" Ich umfasse ihren Arm und drücke mich an sie. Ein genervtes Stöhnen entkommt ihren Lippen, trotzdem legt sie den Arm um mich. In ihrem Arm fühle ich mich so geborgen. "Dich werde ich wohl nicht mehr los, oder?" lacht Eloise leise und öffnet eine Tür zu einem schlicht gehaltenem Zimmer. Es sieht aus, wie aus einem Ikeakatalog. Sie schaltet die kleine Lampe auf dem Schreibtisch ein und löscht das Licht an der Decke. "Niemals." Glücklich schmunzelnd folge ich ihr ins Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Danach ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, um meiner Mom zu schreiben, dass ich bei Jason schlafe. Ist ja nur halb gelogen. Ich habe gar nichts zum Schlafen dabei, fällt mir gerade ein. Wo soll ich überhaupt schlafen? "Eloise." Ich zupfe an ihrem T-Shirt, während sie in ihrem Rucksack wühlt. "Mh?"
"Darf ich bei dir bleiben und bei dir schlafen?" Mit meinem geübten Hundeblick schaue ich ihr in die Augen. Mom fällt immer darauf rein, wenn ich etwas haben will. Eloise's kalter Blick schmilzt sofort. "Klar doch." haucht sie. "Aber du hast doch gar nichts dabei." Stimmt ja. Ich könnte aber auch einfach in meinen Klamotten schlafen. "Nimm das." meint sie, zieht sich das Shirt über den Kopf und drückt es mir in die Hände. Meine Augen weiten sich unwillkürlich bei ihrem Anblick. Ihr gebräunter Oberkörper glänzt im warmen Licht der Nachttischlampe wie Seide. Mit viel Mühe erst bekomme ich meine Augen von ihr los. "Du meinst, nur das Shirt?"
"Du kannst meinetwegen auch nur in Unterwäsche schlafen, wenn dir das lieber ist." Sie kaut auf ihrer Unterlippe und zieht ein schwarzes Tanktop aus ihrem Rucksack, um es sich über den Kopf zu ziehen und ihren wunderschönen Körper wieder zu bedecken. Dann knöpft sie ihre zerrissene Jeans auf und lässt sie zu Boden gleiten. "Willst du mir noch weiter zusehen oder dich auch mal selbst umziehen?" Sie grinst mich an, ich erröte. "Aber dreh dich um!" Mit rollenden Augen dreht sie mir den Rücken zu. Ich warte kurz, um sicher zu gehen, dass sie nicht guckt. Erst dann ziehe ich mich bis auf die Unterwäsche aus und ziehe mir ihr Hemd über. Dabei inhaliere ich ihren unwiderstehlichen Duft, als wäre es meine Luft zum Atmen. "Du, Kleines?"
"Was denn?"
"Glaubst du an das Schicksal?" Ihre ernste Frage überrumpelt mich erst, doch dann lächle ich und lehne meinen Kopf an ihren Rücken an. "Das ist schwer zu beantworten. Ich weiß nicht, ob es so etwas gibt, dass jedes Ereignis bestimmt. Aber ich glaube, Dinge geschehen nicht ohne Grund." Mit meinen Fingerspitzen streiche ich über ihr rechtes Schulterblatt. Irgendetwas fehlt hier. Ein paar Engelsflügel. Sie würden ihr gut stehen. "Wirst du betrunken zum Philosophen oder was ist los mit dir?" Bei meiner Frage dreht sie sich um und sieht mich mit ernsten Augen an. "Ich bin immer so. Naja, jedenfalls beim Schreiben."
"Ich mag das." Meine Lippen bleiben straff. Ich kann nicht aufhören zu lächeln. "Du solltest keinen Alkohol trinken. Das verträgst du nicht." lacht sie und hebt mich ins Bett. "Von wegen. Ich könnte das Zeug literweise trinken und trotzdem seriös bleiben." schmunzle ich. Mit einem coolen Grinsen streicht sie mir über die Wange und legt sich zu mir. Ich spüre ihre nackte und warme Haut an meinen Beinen. Ich denke nicht lange nach und klammere mich wieder an sie. "Oh man, ich hatte noch nie so ein anhängliches Mädchen wie dich."
"Wer war da denn noch?" Nun schwindet das Lächeln aus meinem Gesicht. Ihres nicht. "Viele, aber noch keine wie dich." Okay, ich verzeihe dir jedes dieser Mädchen, wenn du das nochmal sagst. "Nochmal." flüstere ich, obwohl wir alleine sind. "Was?"
"Sag es nochmal." Darauf lacht sie. "Keine ist wie du."
"Aber wie bin ich denn?"
"Du bist so anhänglich, sogar schon fast nervig." Oh, super. "Aber das ist nicht schlimm, also ich finde das irgendwie süß. Du benimmst dich immer so, als würde ich gleich abhauen." Ihre Hände streichen über meinen Rücken. "Ich will ja auch nicht, dass du gehst ..." gebe ich zu. "Warum sollte ich denn auch gehen?"
"Meine Mama sagt, ich solle die Menschen, die mir wichtig sind, immer so behandeln, als wäre es das letzte Mal, dass ich sie sehe. Weil manchmal gehen die Leute schneller, als man denkt." Eine erdrückende Stille folgt. Eloise schaut ein wenig ratlos an meinem Kopf vorbei. "Ich gehe nicht. Ich werde für immer bleiben. Und selbst wenn ich irgendwann nicht mehr in diesem sterblichen Körper hause, dann findest du mich auf Papier wieder." Meine Stimme bleibt mir im Hals hängen. Ihre Worte finden jedes Mal Wege mich ins Herz zu treffen. Und zwar hart. Ihre Worte können mehr in mir ausrichten, als sie eigentlich dürften. "Aber genug davon. Sieh mich an." Ihre Hand drückt mein Kinn sanft hoch, sodass ich ihren durchbohrenden Augen ausgeliefert bin. Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein, aber es kommt mir so vor, als würde ich seichte Wellen sehen. "Und jetzt mach die Augen zu. Ich will dir etwas zeigen."

To the moon and backWo Geschichten leben. Entdecke jetzt