Teil 4

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"Oh! Da bist du ja wieder. Ich hab dich schon sehnlichst erwartet, mein Kleiner!"
Als wäre ich das wichtigste Objekt des Raumes, warf er sofort seinen Roman auf den Boden, sprang auf und rannte mich beinahe um, so fest umschlang er mich.
Es folgte ein dicker, feuchter Schmatzer auf die Wange, der mir einen krassen Schauer über den Rücken jagte.
"James!"
"Was?"
"Kann ich erstmal ankommen, bevor du mich sexuell belästigst?", fragte ich mit genervtem Unterton. Dabei fand ich das gerade ein wenig süß.
Er lachte heiser, und ich fragte mich, ob er rauchte. Wenn ja, würde es mich auch nicht sonderlich stören. Hauptsache, ich würde davon nichts mitbekommen, falls er auf die Idee kommen sollte, ab jetzt regelmäßig Körperkontakt zu suchen.
Als könnte er meine Gedanken lesen, landeten seine Hände auf meinen Schultern und umgriffen den Kragen meiner Jacke, dann zog er sie langsam von meinen Schultern und schließlich hatte ich keine Jacke mehr an.
"Wieso ziehst du mich aus?"
"Irgendwie niedlich, wie du das so sagst. Ich kann gerne noch mehr ausziehen, wenn du-"
"Vergiss es."
Mit schnellen Schritten lief ich in mein Zimmer und schloss die Tür, damit James mein glühendes Gesicht nicht sehen konnte.
In solchen Momenten gewann die Jungfrau in mir einfach die Überhand.
Es ging noch immer nicht ganz in meinen Kopf herein, wie sich alles gewendet hatte. Das ich James jemals wieder zu Gesicht bekommen würde, hätte ich nie gedacht, doch ich hätte ebenfalls nicht erwartet, bei unserem Wiedersehen einen so veränderten Jungen vorzufinden.
Ich meine, früher wirkte er so still und...irgendwie erwachsen. Ja, irgendwie erwachsener als heute, obwohl es das Gegenteil sein sollte.
Doch es war nicht so, als würde mir James aus so einem lächerlichen Grund nicht mehr gefallen. Menschen änderten sich eben, und ich als tolerante Person fand es nicht schwer, mich damit abzufinden. Ich war sogar ein wenig froh, dass er so lebendig wirkte.
Allerdings...gaben mir diese ganzen Dinge trotz dessen keine Antwort darauf, wie es ab jetzt weitergehen sollte.
Mein Herz war verwirrt.
"Davin? Alles klar?"
Es klopfte an meiner Zimmertür und ich zuckte regelrecht zusammen.
"Ja, alles okay. Tut mir leid wegen gerade eben... Ich brauche heute nur Zeit für mich."
Wofür entschuldigte ich mich überhaupt? Ich brauchte nunmal viel Zeit zum Lernen, um den Prüfungen in zwei Monaten in den Arsch treten zu können.
"Verstehe...okay, dann lasse ich dich allein. Verzeih, wenn ich dich genervt habe!"
Nein, ich hatte es mir nicht eingebildet. Auf keinen Fall.
James' letzter Satz klang so traurig und enttäuscht, dass sich mein Herz anfühlte, als würden tausend kleine Nadeln in mein Herz gebohrt, und diese Nadeln trugen den Namen Schuldgefühle.
Was tat dieser Junge nur mit mir?
Ich versuchte, das Alles fürs Erste in die tiefste Ecke meines Hirns zu befördern, um mich besser konzentrieren zu können. Emotionen beeinflussen schließlich rationales Denken und das konnte ich mir absolut nicht leisten.
Meine Mutter hätte mich jetzt vermutlich ausgeschimpft und gesagt, ich solle so nicht denken und mich über jedes noch so kleine Gefühl, jede noch so kleine Emotion gefälligst freuen, denn das war der Beweis, am Leben zu sein.
Doch meine Mutter war nicht da.

Am späten Abend, nachdem die anderen bereits gegessen hatten und nun vermutlich ihren Schlaf genossen, schlich ich mich wie ein Einbrecher durch den Flur in die vom Mondlicht erhellte Küche, um etwas Essbares zu finden.
Fanny war vorhin wieder in mein Zimmer gestolpert, um mich zum Abendessen mitzuschleifen. Doch ich lehnte ab, sagte, ich hätte noch eine Menge zu tun, denn das hatte ich wirklich, und ich hätte keinen Hunger gehabt.
"Weißt du, Davin, langsam mache ich mir ein wenig Sorgen. Früher hast du unser gemeinsames Essen nie ausfallen lassen." Das waren ihre Worte gewesen, bevor sie mein Zimmer enttäuscht wieder verlassen hatte.
Während Fanny an mir zweifelte, begann ich ebenfalls an mir zu zweifeln.
War das, was ich tat, überhaupt richtig? War es das wert?
Ich schottete mich ab, schob meine Freunde von mir und sah nur noch die stille Enttäuschung in ihren Augen. War es wirklich das, was ich wollte?
Ich wollte einfach nicht noch mehr Menschen, die mir sehr am Herzen lagen, verletzen oder verlieren. Ich hatte meine Mutter und meinen Vater bereits ziehen lassen, mehr konnte ich einfach nicht ertragen.
Es war 11:24 Uhr, als ich auf die glorreiche Idee kam, in James' Zimmer zu gehen und mich zu entschuldigen.
Ich klopfte nicht, da ich die anderen nicht wecken wollte, genauso wenig James, der ja auch bereits hätte schlafen können.
Doch das war nicht der Fall.
Von seinem neuerdings aufgebauten Schreibtisch aus, an dem James gerade saß, spendete eine kleine, schwache Lampe Licht für das gesamte Zimmer, während zwei Duftkerzen auf seinem Fensterbrett wie verlorene Irrlichter wirkten.
Zuerst bemerkte er gar nicht, dass ich das Zimmer betreten hatte, und das wollte ich ausnutzen.
Ich pirschte mich an den Unwissenden heran, kam ihm immer näher, blieb hinter ihm stehen und legte vorsichtig meine Hände auf seinen Kopf.
Es folgte ein alles andere als männliches Quieken und ein dazu passender Blick: als hätte er sich gerade in die Hose gemacht.
Es war mir plötzlich egal, ob jemand in den benachbarten Zimmern wach werden würde, denn ich wurde heimgesucht von einem bösartigen Lachkrampf, der mir Tränen in die Augen trieb.
"Scheiße, Davin! Willst du mich umbringen?! Ich dachte, du wärst ein Zombie oder das Mädel aus The Ring oder so!"
Dieser Satz brachte mich jedoch nur noch mehr aus der Fassung, und bevor ich noch irgendetwas kaputt machen konnte, ließ ich mich auf sein Bett fallen.
"Tut mir...leid!", keuchte ich lachend. Es war einfach zu geil.
Ein hinterhältiges Grinsen zierte plötzlich sein Gesicht. Er stand auf und kam mit langsamen, bedrohlichen Schritten auf das Bett zu.
"Dir gefällt es also, zu Lachen, ja? Soll ich dich noch mehr zum Lachen bringen?"
Dies war die Ankündigung einer folgenden Kitzelattacke, bei der ich beinahe umgekommen wäre. Ich bekam einfach keine Luft mehr.
Nach gefühlten Stunden der Quälerei hatte James endlich Erbarmen und warf sich neben mich auf das Bett.
Als ich mich allmählich beruhigt hatte, fragte er: "Geht es dir gut?"
Ich nickte, mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.
"Jetzt schon, danke."
"Wieso bist du hier?"
"Ich wollte mit dir sprechen."
Langsam richtete ich mich auf, was er mir gleichtat.
"Das von vorhin tut mir leid. Ich habe mich sicher benommen wie ein Mädchen während ihrer Periode..."
Kaum hatte ich es ausgesprochen, war mir der Spruch peinlich. Dabei war die Periode bei Frauen vollkommen normal...
James schien das allerdings nicht zu stören. Er ließ mich ausreden.
"Ich denke, ich habe dir noch nicht deutlich genug gemacht, wie sehr ich mich freue, dass du erneut in mein Leben getreten bist. Ich habe in den vergangenen Jahren oft an dich gedacht...und mich gefragt, wie es wäre, wenn wir eine langfristige Freundschaft durchlebt hätten. Natürlich würden wir uns jetzt besser kennen und verstehen, doch das ist nicht alles, denke ich. Wenn du an meiner Seite gewesen wärst..."
Ein tiefes Seufzen durchdrang meine Kehle.
"...dann hätte ich vielleicht ein schöneres Leben gehabt."
Ich sah zu James und erstarrte.
Seine Augen hatten sich mit riesigen Tränen gefüllt, die wie in Zeitlupe seine Wangen herunter rannen. Mein Herz blieb fast stehen bei diesem Anblick.
"Oh Gott, James! Hab ich was falsches gesagt? Tut mir leid, ich dachte nur, dass-"
Er unterbrach meinen Redeschwall durch ein Mitleid erregendes Schluchzen. Er wandte schlagartig den Blick von mir ab, mein Herz brach.
"Nein...mir...tut es leid! Wenn ich das....gewusst hätte, dann... Ach, verdammt!"
Er raufte sich die Haare und seine Tränen bedeckten seine Bettdecke.
Ich war so schockiert, dass ich im ersten Moment nicht klar denken, geschweige denn handeln konnte. Doch mir wurde schnell bewusst, was ich zu tun hatte.
Nun war die Zeit gekommen, ihm den Trost, den er mir vor Kurzem gespendet hatte, zurückzugeben.
Vorsichtig, als würde James aus Glas bestehen, schlang ich meine dünnen Arme um ihn und drückte ihn behutsam an mich.
Man musste sorgsam mit wertvollen Schätzen umgehen.
"Du musst deinen Blick nicht abwenden, James. Jeder Mensch darf weinen, er muss es manchmal sogar. Weine dich so lange bei mir aus, bis es dir besser geht."
Zitternd nahm er mein Angebot an.

Das Ende vom Lied: wir kuschelten in seinem Bett, obwohl es bereits 0:12 Uhr war und mich meine Bücher sicher schon vermissten.
Doch das Letzte, was ich wollte, war, James in diesem Zustand allein zu lassen.
Ich lag auf dem Rücken, während er wieder halb auf mir lag, sein linker Arm um meinen Oberkörper, sein Kopf auf meiner Brust, dort, wo mein Herz schlug.
Es schlug wild und schnell, wie die Flügel eines jungen Vogels, der gerade das Fliegen lernte.
Er atmete ruhig und hatte seine vom Weinen geröteten Augen geschlossen.
Er wirkte wie ein kleiner Junge, so wie ich ihm durch sein dichtes Haar strich.
Immer, wenn ich ihm einzelne Strähnen aus der Stirn strich, obwohl sie sowieso eine Sekunde später an derselben Stelle landen würden, lächelte er schwach.
Alles in Allem schien es ihm besser zu gehen.
Ob ich jetzt wieder in mein Zimmer gehen und Lernen konnte?
"Davin?"
Dieser Gedanke war schneller verschwunden als Sonderangebote beim Black Friday.
"Ja?"
"Ich bin damals gar nicht zu meiner Schwester gefahren."
Erst wusste ich nicht, was er mir damit sagen wollte, doch dann erinnerte ich mich an den Tag am Bahnhof und die Zugfahrt. Seine Worte, dass er seine Schwester ganz allein besuchen wollte.
"...wohin dann?"
Er zögerte.
"Ich bin...geflohen. Vor meinen Eltern."

Grown up now (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt