Kapitel 1

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Jeden Morgen das Gleiche. Jeden Morgen aufwachen und sich fragen, warum. Jeden Morgen sich ins Bad schleppen und sich vor dem eigenen Spiegelbild erschrecken. Jeden Morgen versuchen die Augenringe wegzureiben, die da waren, weil man am Abend nicht einschlafen konnte. Weil man zu viel nachdachte. Über die Zukunft, über die Vergangenheit und über das große 'Warum'. Ich fühlte mich schon lange leblos. Ausgesaugt. Ich war ein Nichtsnutz.
Langsam schleppte ich meinen Körper nach unten, um lustlos das Essen anzustarren. Andere macht Essen glücklich. Na, wenn es so einfach ist.

Fertig umgezogen und mit dem Rucksack für die Schule auf dem Rücken stand ich nun vor dem Spiegel im Flur. Ich strich mir die langen blonden Haare aus dem Gesicht. Kein Junge hatte so eine Frisur. Aber meine Haare als Frisur zu bezeichnen, war schon maßlos übertrieben. Kein Junge trug solche Nerd-T-Shirts zu Computerspielen wie ich. Aber wer war ich, dass ich dazu gehören sollte? Zwar kam ich auf der neuen Schule besser klar als auf der alten, aber um wie viel war die stetige Ignoranz besser als Mobbing? Vergangenes kann man nicht rückgängig machen. Die Jahre hatten mich gezeichnet. Mich verändert. Mich zerstört. Mich zu dem gemacht, was ich jetzt war. Mich in dieses dunkle Loch gestoßen.
Im Prinzip war ich schon tot. Ich wusste gar nicht, für wen ich mich noch durch diese Welt schleppte. Vielleicht für meine Mutter. Mein Vater war Alkoholiker. Selten zu Hause und wenn, dann betrunken.

"Auf ein Neues!", murmelte ich, setzte mir ein Lächeln auf und schwang mich aus der Haustür Richtung Bushaltestelle.

Es war der erste Tag nach den Ferien, was mich gerade heute auch so depressiv stimmte. Ich spielte meistens in der Schule den, der gerne alleine herumläuft. Den, der mal da mitredet, aber sich nie einen besten Freund suchte. Aber eigentlich hatte ich gelernt, dass jede tiefere Beziehung zu einem Menschen dir irgendwann Schmerzen zufügt.

*Rückblende*
Die Schulklingel läutete zum Ende des Schultages und alle strömten enthusiastisch ins Wochenende. Für mich fing mit dem Nachhauseweg der Horror an. Überall lauerten welche von ihnen. Jeden Umweg hatten sie bewacht. Deswegen lief ich ihnen seit einiger Zeit extra in die Arme. Es brachte nichts wegzurennen. Es gab keine Auswege. Doch heute standen sie nicht hinter der gewöhnlichen Ecke. Heute hatten sie sich etwas Besseres überlegt.

Ich sah sie schon von Weitem auf dem Schulhof abhängen. Aber sie interessierten sich nicht für mich. Umso besser. Fast gut gelaunt verließ ich das Schulgelände durch ein kleines Tor an der Seite. Es war der kürzeste Weg zu meiner Bushaltestelle.
Beinahe wäre ich in meinen damaligen besten Freund gerannt, der sich gerade einen heftigen Zungenkampf mit einem Mädchen unseren Alters lieferte. Aber es war nicht irgendein Mädchen. Es war meine feste Freundin. Meine Sofie. Meine erste Freundin.

"Henri?", unterbrach ich die beiden mit Tränen in den Augen.
Schadenfreudig schauten sie zu mir rüber.

"Hast du ehrlich gedacht, ich würde dich lieben?", fragte Sofie schnippisch.
Ich verstand es nicht.
"Hast du gedacht, ich würde so ein Opfer lieben?"
Ich konnte es nicht begreifen.

"Und hast du ernsthaft gedacht, ich wäre mit so einem Schwuchtel befreundet?", warf Henri ein.

Plötzlich schubste mich jemand von hinten, sodass ich der Länge nach auf den Boden fiel. Aber er schubste mich nicht einfach nur auf den Boden, er schubste mich auch in dieses tiefe schwarze Loch.

Meine Tränen vermischten sich mit dem Straßenschmutz.

"Hast du gedacht, nh?", fragte der Anführer der Gruppe, die mir immer auflauerte. "Schade für dich!"

Ich verstand es nicht. Was hatte ich denn der Welt getan?
*Ende der Rückblende*

Im Bus angekommen zeigte ich dem Busfahrer meine Fahrkarte. Vier Reihen nach vorne laufen, nach rechts drehen und da war mein Stammplatz. Allerdings war er besetzt. Von einem Mädchen, das vorher noch nie hier gewesen war.
Schlecht gelaunt lies ich mich trotzdem neben sie fallen. Stammplatz war Stammplatz, ganz einfach. Auch wenn der Bus sonst leer war, wenn man von dem Jungen in der letzten Reihe absah, der eifrig auf seinem Handy rum tippte. Wieso musste sie sich auch unbedingt auf meinen Platz setzen?

180 GradWo Geschichten leben. Entdecke jetzt