Neuer Tag, neue Probleme. Auch wenn es der letzte Schultag vor dem Wochenende war, konnte ich nicht mit einem guten Gefühl aufstehen. Ich musste heute in die Schule gehen und diese Tatsache brachte genau zwei Probleme mit sich:
Erstens wusste ich nicht, wie ich meiner Mutter gleich in die Augen schauen sollte. Ich hörte sie unten den Tisch decken. Normalerweise war sie in der Woche immer schon weg zur Arbeit, wenn ich aufwachte. Heute hatte sie mit dem 'Sich-Verbessern' wohl schon angefangen. Es war mir so befremdlich, dass ich am Liebsten gar nicht runter gehen wollte. Ich fühlte mich, als wäre ich bei jemandem zu Gast, den ich nicht kannte und dessen Sprache ich nicht sprach. Jemand, der sich aus Höflichkeit freundlich verhielt und mir Aufmerksamkeit schenkte.
Aber mein zweites Problem war von mindestens genauso großer Wichtigkeit: Gleich durfte ich Anna ihr Buch wiedergeben. Und ich hatte einfach nur Angst. Davor, wie sie reagieren würde und davor, was für Auswirkungen das alles auf die Zukunft haben würde.Schweren Herzens schlug ich meine Bettdecke zur Seite und richtete mich auf. Sofort legte sich die eisige Kälte meines Zimmers um meinen Körper. Wie ein Mantel umhüllte sie mich und hielt mich fest. Als könnte ich ihr nicht entfliehen. Als wäre ich für immer in ihr gefangen. Es schien, als wollte sie mich überzeugen, heute blau zu machen. Ich hasste nichts mehr, als morgens zu frieren. Nichts mehr, als morgens von dieser Kälte förmlich aufgefressen zu werden. Vielleicht hasste ich doch etwas mehr. Vielleicht hasste ich die Leute mehr, die mir vor einem Jahr das Leben zur Hölle gemacht hatten.
Ich machte mich für die Schule fertig und frühstückte mit Mama. Es war komisch mit ihr, aber nicht besonders genug, um es weiter auszuführen.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle erinnerte ich mich daran, dass Anna letzte Nacht bei mir geschlafen hatte und dass sie erst durch meinen Weg zur Bushaltestelle - oder in dem Moment eher den Weg zurück nach Hause - zu mir gefunden hatte. Klar, sie war hier neu und kannte vielleicht nur mich, aber dass sie wenn sie ein Problem hatte, direkt zu mir rannte? Sie kannte mich doch erst diesen einen Tag. Und am gleichen Abend war sie schon zu mir gegangen. Ich verstand dieses Mädchen nicht. Ich hätte - egal, was wäre - eher Zuhause geschlafen.Mit dem Eintreffen des Busses wurde ich mir meiner Situation wieder bewusst. Anna würde darin warten. Vorhin hatte ich ihr Buch eingesteckt und selbst das war mir schon schwer gefallen. Jetzt sollte der größere Schritt kommen. Jetzt sollte ich ihr es zurückgeben.
Als ich Anna sah wie sie unwissend auf meinem Stammplatz saß, bekam ich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie schaute auf und auch ihr Blick wirkte etwas ängstlich. Nervös guckte sie abwechselnd in mein linkes und mein rechtes Auge. Ich ließ mich neben sie fallen. Mit zittrigen Fingern öffnete ich direkt meine Schultasche. Ich wollte es schnell hinter mich bringen. Mein Puls war stark erhöht und ich versuchte, regelmäßig und langsam zu atmen. Dann hielt ich ihr das schwarze Buch hin.
"Schon durch?", stotterte sie.
"Nein.", antwortete ich zaghaft. "Ich wollte nicht in deinem Privatkram rumschnüffeln. Ich hatte Angst, dass du bereust, mir das Buch gegeben zu haben."
Sie überlegte kurz. "Bitte lies es." Ihr Blick war nach unten gerichtet und sie rieb sich nervös die Hände.
"Sicher?"
Sie nickte.
Verwirrt zog ich das Buch wieder zurück und verstaute es in meiner Schultasche. Ich war wirklich davon ausgegangen, dass sie es zurücknehmen würde.
Nachdem Anna die nächsten zwei Minuten nicht den Anschein machte, ein Gespräch anfangen zu wollen, überlegte ich fieberhaft, worüber man denn wohl reden könnte. Eigentlich kannten wir uns ja gar nicht. Aber irgendwie war sie auch die einzige Person, die mir überhaupt nahe kam. Zudem war ich kurz davor, sehr viel über sie zu erfahren.
Könnte ich sie einfach so zu mir einladen? Dann könnte man sich generell besser kennenlernen. Was hatte ich schon zu verlieren? Fragen würde ja wohl nicht so schlimm sein.
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180 Grad
Teen FictionEigentlich möchte Lukas seiner Vergangenheit einfach den Rücken zu kehren. Alles vergessen und auf keinen Fall jemals wieder daran erinnert werden. Doch unerwartet treten Personen in sein Leben, die ihm einerseits neue Perspektiven geben und ihm ein...