Der Winter kann wunderschön sein. Wenn der Schnee in dicken Flocken vom Himmel fällt und alle Geräusche dämpft, als wäre die Welt in Watte gepackt. Wenn alles weiß und es so kalt ist, dass der Atem dampft. Wenn Eisblumen am Fenster emporwachsen und sich die Familie zu einer heißen Tasse Tee vor dem Kaminfeuer versammelt. Und vor allem, wenn man sich abends in die dicken Bettdecken kuschelt und gut gewärmt einschläft, während der Schnee leise aufs Fensterbrett rieselt.
"Ätzend!", ist alles, was Arion zum Winter sagt.
Mit seiner behandschuhten Hand wischte er sich den Schweiß aus der Stirn. Trotz klirrender Kälte war seine Arbeit schweißtreibend. Sein Atem dampfte und an seinen Augenbrauen und Wimpern hingen schon kleine Eiskristalle. Seine Nase spürte er schon längst nicht mehr.
Arion hasste den Winter. Er konnte das ewige Weiß und den Schnee nicht mehr sehen. Von wegen Magie des Winters! Langweilig war es, langweilig. Aus den Kinderschuhen war er schon lange raus, für ihn hieß es nicht mehr Schlitten fahren und Schneemann bauen. Für ihn hieß es Arbeiten. Dafür war er alt genug. Arbeiten in der eisigen Kälte und das jeden Tag. Sein Vater betrieb zusammen mit seinem Onkel ein Eisfarmergeschäft. Jeden Morgen zog Arion also zusammen mit seinem Vater, seinem Onkel und den anderen Arbeitern aus dem Dorf in die Berge, wo es so kalt war, dass die Seen mit einer dicken Eisschicht zugefroren waren. Auf manchen war Arion als kleiner Junge schon Schlittschuh laufen gewesen. Heute stieß er mit seiner Eissäge in die dicke Oberfläche und schnitt gleich große Würfel aus dem Eis, die später ins Dorf transportiert und dort weiter verteilt und verwendet wurden.
"Arion?! Träumst du etwa schon wieder?" Arion zuckte zusammen, als sein Vater über den See rief. Tatsächlich hatte er in den Himmel gestarrt, um den Schneeflocken beim Tanzen zuzusehen. Der Himmel war heute grau, wie meistens, aber an manchen Tagen verzogen sich die Wolken und der blaue Himmel und die Sonne kamen zum Vorschein. Das waren Arions liebste Tage. Heute jedoch waren weder Sonne noch Himmel zu sehen, es schien, als würde es gar nicht richtig hell werden.
Arion schüttelte den Kopf und setzte seine Arbeit fort. Sein Tagesziel an Eis war noch längst nicht erreicht. Seine Füße kribbelten jedoch schon in seinen mit Schafsfell gefütterten Lederstiefeln, denn so langsam verließ die Wärme seinen Körper. Er stapfte über das dicke Eis und verfluchte noch einmal den Winter und sein blödes Wetter.
Er hatte nicht immer so einen Hass auf den Winter. Früher, als kleiner Junge, war er zusammen mit den anderen Kindern draußen, um im Schnee zu spielen. Er war Schlitten fahren, Schlittschuh laufen und bei Schneeballschlachten hatte seine Mannschaft immer gewonnen. Doch an einem dunklen Tag, einem Tag wie heute, war Arion mit seinem großen Bruder Arvid und seinen zwei besten Freunden Kol und Sven oben auf einem kleinen Berg, um den frisch beschneiten Hügel hinunter zu rodeln. Arion wollte unbedingt auf dem steilen Hang um die Wette Schlittenfahren. Er war dumm, jung und leichtsinnig, nicht umsonst hatte sein Vater die Abfahrt dieses Hügels streng verboten. Sein Bruder wollte ihn davon abhalten, aber Arion wollte nicht hören. Doch an diesem Tag, als Arvid und Arion den Berg hinunter rasten, löste sich eine Schneelawine und begrub ihn unter sich. Arion lag eine lange Weile unter der Decke aus Schnee, bevor ihn seine Dorfmitglieder fanden. Zu diesem Zeitpunkt war er schon halb tot und erfroren. Er überlebte jedoch und erholte sich wieder. Was er davon trug, waren ein paar gebrochene Rippen, zwei Zehen weniger, die abgefroren waren und seine bis heute anhaltende Abneigung gegen das weiße Kalt.
Bis zum Mittag arbeitete er stumm, brach die Eisplatten und schichtete die Blöcke auf dem Schlitten auf. Die Erinnerungen an diesen Unfall wühlten ihn auf, er war so sehr in Gedanken versunken, dass er das vermehrte Schneetreiben um ihn herum und auch die Rufe seines Vaters nicht bemerkte. Erst als ihn jemand an der Schulter berührte, schaute er auf.
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Erwachen des Frühlings
Fantasía"I still believe in summer days. The seasons always change. And life will find a way." -Winter Song, Sara Bareilles Aber was, wenn die Jahreszeiten nicht mehr wechseln? In Graulanden herrscht seit Ewigkeiten ein kalter Winter. Zumindest sagen die M...