- Morgensonne

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Morgensonne

Dumpf rumorte der Schiffsdiesel der Fähre durch meine Eingeweide. Ich schlug meine schlafverklebten Augen auf, und das Erste, was ich erkannte, waren die letzten verbeulten Bierdosen von gestern Abend. Leise schepperte das Blech der Peronis im trägen Auf und Ab des Schiffes aneinander. Meine Lippen brannten leicht, wie nach zu vielen Küssen. Ein hauchdünner Salzfilm hatte sich über Nacht auf sie gelegt. Das Salz der Meeresluft. Mit meiner Zunge leckte ich es ab.

Schwallweise wehten mir warme Dieselschwaden ins Gesicht. Ich hustete, hob meinen Kopf von dem gepolsterten Rucksack und pellte mich aus meinem Schlafsack. Das helle Surren des Reißverschlusses weckte Carlo. Er drehte sich murrend um.

Meine Füße waren kalt und steif. Ich knetete sie durch und schnappte mir meine Schuhe.

Schlaftrunken und aufgrund der Bewegungen der Fähre schwankend, stand ich auf dem grün gestrichenen Boden des Achterdecks und schaute über den leeren Swimmingpool zum Horizont jenseits des Hecks. Italien außer Sichtweite.

Wie ein weiter weißer Highway zog sich das aufgewirbelte Wasser der Schiffsschrauben in die Vergangenheit. Dieselabgase wurden im Windstrudel zu mir gesogen. Die klamme Jeans an meinen Beinen. Ich hatte einen Muskelkater vom Laufen. Ich grinste, ging ein paar Schritte Richtung Backbord und lehnte mich über die Reling. Hier wehte mir frische warme Luft ins Gesicht. Möwen schwebten auf meiner Kopfhöhe und schrien mich an. Unten klatschten die Wellen laut an die Bordwand. Und ich schmeckte Salz auf den Lippen.

In der Ferne erhoben sich im Morgendunst die Berge der albanischen Küste. Grell blinzelte die Sonne über die Kuppen. Schon bald musste ich meine Augen zukneifen. Entspannt konzentrierte ich mich auf das samtene Orange hinter meinen Lidern und auf die Geräusche um mich herum.

Hinter mir raschelte es.

„Hey“, Carlo tippte mir an den Arm. In seiner Hand eine Zigarette, den Filter mir zugewandt.

Ich fischte die italienische Schmuggelfilter aus seinen Fingern und ließ mir aus hohlen Händen Feuer geben. Wegen des Windes funktionierte es erst beim zweiten Mal.

„Danke“, ich murmelte das Wort.

„Mmh“, er schaute links an mir vorbei auf die See. Sein halblanges Haar zerschnitt ihm in Strähnen das Gesicht, der Wind schmiss es nervös von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Bartstoppeln auf seiner markanten, breiten Kieferpartie, in der die obligatorische Gauloises klemmte. Die Augen kniff er zu, halb müde, halb gegen die Helligkeit der tiefstehenden Sonne. Ein goldener Ring am Finger und ein goldener Kreole im Ohr waren sein einziger Schmuck. Braune einfache Halbschuhe, eine weite Bluejeans, das bunte Hemd, die ersten zwei Knöpfe immer offen, da ihm schnell warm wurde, wie er sagte, und jetzt auf unserer Flucht die verwaschene alte Jeansjacke.            

Geistesabwesend tickte er die Asche ab. Seine Zigarette war schon halb abgebrannt, „Die Tür ist noch verschlossen.“

„Pissen?!“, ich grinste und sprach meine berechtigte Vermutung in den Wind, ohne ihn anzuschauen.

„Mmh.“

Aus dem Augenwinkel sah ich ihn mit der einen Hand die Nasenwurzel massieren.

„Oder musst du ...“

„Ich werd jetzt kaum am helllichten Tag da auf irgendeine Tonne steigen.“

Lachend vor Schadenfreude atmete ich stoßweise den blauen Dunst in den Morgenwind.

„Sch...“, er nahm einen tiefen letzten Zug an seiner Zigarette und schnippte sie senkrecht in die Luft, wo sie von einer Böe erfasst und weggerissen wird. Eine Möwe stürzte hinterher.

„So hab ich auch mit dem Rauchen angefangen“, sagte Carlo tonlos zu dem Vogel.

Die Tür wurde aufgeschlossen. Wir drehten uns um.

Carlo klatschte in die Hände, „Voila!“

Er mischte gerne und oft gängige und allgemeinverständliche Ausdrücke verschiedener Fremdsprachen miteinander. Allerdings war bei Carlo nicht leicht zu entscheiden, welche Sprache eine Fremdsprache für ihn war, schließlich sprach er neben Deutsch auch Italienisch, Englisch gut und Spanisch konnte er ebenfalls verstehen. Beneidenswert.

Dann drehte sich endlich der Schlüssel im Türschloss. Verwundert sah uns der junge Matrose an, als wäre seine erste Vermutung, wir wären durch die geschlossene Tür nach draußen gelangt, oder wir hätten das Schiff in der Nacht bestiegen, gekapert, schwimmend, oder wir würden als Nächstes unser Geld zurückverlangen oder ihm Ärger machen, weil er unsere Hilfe- und Nein-Rufe gestern Abend überhört hatte. Wir nickten ihm freundlich einen Guten Morgen zu, und er verschwand wieder im Gang.

Zuerst strömten aus der Tür die Raucher. Sie wünschten uns nuschelnd einen guten Morgen, auf Albanisch, dessen einfachsten Grundzüge wir uns bei unseren Vorbereitungen in den vergangenen Wochen selbst versucht hatten beizubringen. Wir antworteten, aber jeder hörte natürlich unseren Akzent, bis wir es genauso nuschelten wie die anderen.

Carlo wartete ungeduldig und verschwand durch die Tür, als der Strom von Nikotinabhängigen abriss.

Ich richtete meinen Blick wieder auf den morgendlichen Horizont.

Zwei bis drei Wochen wollten wir zusammenbleiben, als Kerle, die erste Zeit nach dem Coup gemeinsam verbringen, dort, wo uns niemand vermutete. So konnten wir uns zu zweit über den Erfolg freuen, aber es war auch eine gegenseitige Kontrolle, das war uns klar, damit keiner von uns beiden unverhofft schwach werden und sich womöglich stellen würde. Wir hatten nicht das Gewissen von Bankräubern oder Serientätern. Die Angst, erwischt zu werden, schwang mit bei jedem Schritt. Diesem Druck mussten wir standhalten, das ging leichter, wenn man sich in solchen Momenten gegenseitig stützen konnte. Anschließend würden wir beide nach Griechenland reisen, allerdings getrennt, für einige Wochen, damit wir uns dann endgültig treffen konnten, um den großen Preis einzulösen: ein gemeinsames, unbeschwertes Leben, einfach, aber ohne finanzielle Sorgen, so lange wie möglich. Und mit 60.000 Mark hofften wir, locker vier Jahre hinzukommen, und wer weiß, vielleicht würden wir irgendwo gemeinsam eine Strandbar aufmachen und alles würde ganz anders kommen.

Eine Möwe überholte gemächlich die Fähre. In ihrem Schnabel glühte die Zigarettenkippe. Sie paffte kurz und blinzelte mir zu.

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