- Wie wir an die beiden Säcke Geld kamen

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Wie wir an die beiden Säcke Geld kamen

Wir rannten. Wir lachten, und wir rannten. Der Regen prasselte uns ins Gesicht. Menschen mit erschrockenen Gesichtern unter Regenschirmen stoben vor uns auseinander, und hinter uns brüllte der Wachmann des Geldtransporters her. Eine Sirene heulte auf.

Carlo hatte sich um den fülligen Wachmann gekümmert, der die Säcke aus dem Baumarkt getragen und sie auf der Ladefläche abgestellt hatte. In dem Moment sprang er zu ihm hin und riss ihn zu Boden. Gleichzeitig zog ich die zwei Säcke aus dem Innenraum des Geldtransporters, schmiss meinem Freund einen Sack in die Arme und ab gings.

Der Kollege des Wachmanns saß am Steuer und telefonierte, wie immer. Er hatte noch nichts mitbekommen. Auf diesen Tag hatten wir gewartet.

Und so liefen wir durch den Regen mit den Säcken vor unseren Bäuchen Slalom um die Menschen, und niemand versuchte uns aufzuhalten. Meine Haare peitschten von links nach rechts, wenn sie nicht als Strähnen quer über der großen Sonnenbrille klebten, die mein überschminktes Gesicht so weit wie möglich verdecken sollte. Dicke Wassertropfen brachen meine braungetönte Umwelt. Ein noch nie gesehenes Bild. Carlo trug eine Spiegelbrille und eine dunkelblaue Seemannsmütze, seine halblangen Haare hatte er darunter gestopft, dazu dieser falsche, buschige Oberlippenbart.

Bevor wir von der Straße abbogen, schaute ich mich über die Schulter um und sah den Wachmann an einer Hauswand um Luft ringen. Mit der anderen Hand haspelte er am Gürtel nach der Funke. Sein Kollege stieg jetzt erst aus.

Wir sprachen kein Wort, wir rannten nur. In einer Seitenstraße ohne Geschäfte hatten wir freie Bahn, eine Handvoll Leute verlor sich auf dem Bürgersteig. Ich hörte meinen keuchenden Atem, unsere schweren Schritte beim Laufen und das Knistern und Rascheln unserer gelben Regenmäntel. Morgen würde es heißen: Junge Frau und junger Mann überfielen Geldtransporter.

Wieder bogen wir ab, in eine kleine Allee mit einem Bach in der Mitte. Auf der anderen Seite bei der Holzbrücke lehnten unsere Fahrräder an einem Baum.

Wir hatten uns kein Auto besorgt, keine Kennzeichen gestohlen und ummontiert. Wir wollten nicht an der nächsten Ecke von der Polizei gestoppt werden, in einem Stau stecken bleiben oder jemanden auf der Flucht im Adrenalinrausch überfahren. Wir wollten alles anders machen, anders, als all jene, die sich schnappen ließen. Carlo und ich waren Anfänger, nein, nicht mal das, dieser Coup war unser erster Raub überhaupt, und wir wollten keine Karriere daraus machen, nicht im Guten, nicht im Schlechten.

Bei unseren Fahrrädern knallte er gegen mich, und unsere Sonnenbrillen klackten aneinander, als er mich spontan küsste, heiß und kalt zugleich, schnell und feucht, den Atem und Speichel voller Adrenalin, und sein dummer Schnurrbart kitzelte wie verrückt.

Der Kuss war nicht abgesprochen, den hatten wir nicht vorher zuhause in den Zimmern unserer WG als Vorbereitung auf den heutigen Tag durchgespielt.

Wir ließen einander los, ein flüchtiger Blick. Niemand war hinter uns her, also verstauten wir die Geldsäcke in den verranzten Militärrucksäcken, die wir auf den Fahrrädern angeschnallt gelassen hatten. In ihnen lagen ein paar Müsliriegel, einige Dosen Bier, kalte Pizza, ein albanischer Sprachführer, eine Schere, eine Stange Gauloises, zwei leere Aldi-Plastiktüten, Unterwäsche und Socken zum Wechseln, Zahnbürsten und unsere Schlafsäcke.

Ein Halstuch hatte ich bereits mit etwas Creme versehen, mit ihm wusch ich mir die übertriebene, im Regen verlaufene Schminke vom Gesicht. Carlo hatte es da mit seinem angeklebten Schnurrbart einfacher. Er zupfte ihn ab, rieb sich damit meine Schminke von unserem Kuss von seiner Wange und schmiss den feuchten Klumpen in den Bach, wo er weggetrieben wurde.

Dann zogen wir uns die Regenmäntel aus und stopften sie ebenfalls in die Rucksäcke. Die Sonnenbrillen flogen hinterher. Nun trugen wir, was wir darunter angelassen hatten, Carlo seine Jeansjacke und ich ein dickes Baumfällerhemd.

Der Schlafsack kam oben drauf, mit einem Handgriff zugeschnürt, und schon schwangen wir uns auf die Fahrräder.

Hatte ich alle Schminke aus meinem Gesicht gewischt? Das würde nicht gut aussehen, so durch die Straßen zu fahren, zu auffällig. Aber Carlo hätte es mir gesagt, er hätte mich darauf hingewiesen. Oder?!

„Carlo!“

„Ja?“, erschrocken drehte er sich zu mir um. Seinem Gesicht war abzulesen, dass er ein Problem befürchtete.

„Wie seh ich aus?“, fragte ich ihn.

Er lächelte erleichtert, „Sexy, Tina, sexy!“

Das Wasser spritzte vom Vorderrad bis auf die Knie meiner Hose. Wir fuhren gebeugt, wie man im Regen Fahrrad fährt, Richtung Frankfurter Hauptbahnhof, und dicke Tropfen prasselten in unsere Gesichter. Polizeisirenen kajolten durch die Stadt. Ich redete mir ein, die könnten bei dem Wetter auch zu einem Unfall unterwegs sein.

Immer wieder lachten wir irre auf. Die Nerven.

Ich wunderte mich über meine Kondition. Für diesen einen Sprint hatten wir seit einem halben Jahr trainiert, Joggen, jede Woche. Seitenstiche zu einem falschen Zeitpunkt wären fatal.

Nach einer gefühlten Ewigkeit meinte Carlo außer Atem, „Und das alles für einen Satz Briefmarken.“

Das sagte er mir mit seiner selbst in diesem Augenblick ruhigen, tiefen Stimme, als sei es ihm ernst. Carlo war einer der wenigen Menschen mit einer solchen Stimme, eine Stimme, die man aus den Flugzeuglautsprechern hören möchte, wenn Flammen aus dem linken Triebwerk schlagen, die erklärt, alles nicht so schlimm, wir können auch mit einem Triebwerk sicher landen.

„Ich hoffe doch nicht“, sagte ich, um irgendetwas zu sagen. Nein, das dürften keine Briefmarken sein. Das müssten sie sein: die Wocheneinnahmen des Baumarktes.

Carlo klingelte mit seiner Radschelle.

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