- Stadt der 1.000 Fenster

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Stadt der 1.000 Fenster

„Gezuar!“, Carlo und ich prosteten uns zu.

Als es anfing zu regnen, hatten wir an einem der runden Plastiktische unter der blauweiß gestreiften Markise des Cafés auf dem Marktplatz in Berat Schutz gesucht. Rings um die aus Europaletten gebaute Terrasse wuchs eine niedrige Hecke, die mir sitzend bis zur Hüfte reichte. Leise pladderte der Regen auf das Synthetikdach. Zwei Einheimische unterhielten sich an der Theke.

Carlo schwang ein Bein auf seinen Rucksack, „Tja, das war jetzt wohl nichts mit dem Kellner“, dann stellte er seine Flasche Peroni ab und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf.

Ich schaute zum Kellner, den wir nach einer Unterkunft gefragt hatten, aber er hatte nur mit den Schultern gezuckt. Und das war ein beeindruckendes Schauspiel, standen sie doch eckig und zu weit vom Körper ab, als hätte er einen übergroßen Kleiderbügel in seinem Hemd vergessen. Jetzt las er mit einem gelangweilten Blick die Tageszeitung, den Kopf tief gesenkt, seine Ohren unterhalb der Schultern.

Auf der anderen Seite des Marktes begann die Altstadt, die sich trotz Regen und grauem Himmel stolz den Berg hochzog und dem kleinen Ort Berat den Beinamen Stadt der 1.000 Fenster eingebracht hatte. Die Häuser waren dicht an dicht in den Berghang gebaut, und sämtliche Fenster zeigten zu unserer Seite. Carlo folgte meinem Blick, „Vielleicht sollte einer von uns einfach mal dort durch die Gassen laufen und fragen.“

„Ja, einer von uns“, ich hielt meine Hand über den Rand der Markise. Ein fetter Tropfen landete auf meiner Handfläche, „Einer von uns.“

„Ja-ja, ich bin dran. Lass uns noch das Bier in Ruhe zu Ende trinken“, sagte Carlo, „Hoffentlich hat es bis dahin dann aufgehört zu regnen.“

Unter den Paletten, auf denen unsere Stühle standen, strömte das Regenwasser, das den Berg herunterfloss, wobei die Gassen und Straßen eher Kanälen glichen. Aus ihnen schoss das Wasser auf den Markplatz. Dabei rissen die Wassermassen auf ihrem Weg alles mit, was auf dem Boden stand und nicht angebunden war. Der Marktplatz war ein einziger See, dessen driftende Oberfläche mit Millionen Tupfern Plastik und Papiermüll besprenkelt war, und wir saßen auf der Insel fest. Die Menschen hatten sich in Hauseingängen untergestellt und harrten dort aus, viele von ihnen hockend, die Arme als Gegengewicht vorne um die Beine geschlungen, rauchten, unterhielten sich. Binnen Sekunden verstummte das Rauschen des Regens, und bevor das Wasser ganz abgeflossen war, brach die Sonne durch, die Erde dampfte, und dichte Nebelschleier zogen wie durchsichtiges Schinkenfett an den 1.000 Fenstern vorbei.

Die Menschen hatten bereits ihre Hauseingänge verlassen und die Zigaretten in die Pfützen geschnippt, da klopfte Carlo zum Abschied auf den Tisch und sagte, „Mal sehen, was ich für uns finde.“

„Viel Glück“, wünschte ich ihm und schaute ihm nach, wie er den Marktplatz überquerte, und der Wasserdampf wie Schwärme von Eintagsfliegen seine Beine umwirbelten. Mit beiden Händen band er sich seine Haare zu einem kurzen Zopf.

Stumm nickte ich dem Kellner zu, der mich nach einem weiteren Getränk gefragt hatte.

Carlo drehte sich noch einmal um, und ich zeigte ihm meinen Daumen hoch, dann verschwand er zwischen den 1.000 Fenstern. Und ich saß alleine mit unseren 60.000 Mark da.

Der Kellner kam herüber, was jedes Mal ein geräuschvolles Spektakel war, denn die Europaletten lagen lose auf dem Asphalt, so dass sich ein Ende hob, wenn er auf das andere trat. Ein ständiges Klappern, und durch die Bewegung des Holzes knarrten die darauf stehenden Stühle und Tische.

Er stellte das Bier vor mir ab, und ich bedankte mich. Die Flasche war eiskalt, und das Wasser rann am Glas herab, hatte das Etikett aufgeweicht und rutschig gemacht. Ich nahm einen Schluck und stellte die Flasche ab, ohne sie loszulassen.

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