- Jesus von Albanien

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Jesus von Albanien

Auf dem Bahnhofsvorplatz blieben wir inmitten der Schlaglochlandschaft stehen. Gerade mal drei Wagen parkten hier, ein Bus war nicht zu sehen.

Carlo atmete tief aus und sagte, „Es ist eh noch früh. Da drinnen gibt’s ein Bahnhofscafé. Sollen wir uns erst einen Kaffee genehmigen?! Danach können wir vielleichtjemanden fragen.“

„Klar.“

Zielstrebig marschierten wir auf einen Tisch nahe der Bar zu, als könnten wir in dem leeren Etablissement übersehen werden. Das Interieur des Bahnhofsrestaurants unterschied sich nicht wesentlich von dem in Dürres. Es schien, der Betreiber hätte alles eingepackt und wäre als Letzter mit Sack und Pack in den Zug gestiegen, um hier in der Hauptstadt alles wieder genau so aufzubauen.

Ein untersetzter, fülliger Mann rannte lautlos aus der Küche auf uns zu mit einem weißen Handtuch über dem Arm, wie in einem alten Hans-Moser-Film, und als er uns freundlich nach unseren Wünschen fragte, ähnelte er dem Schwarzweißfilm-Star ebenso in seinem Wesen.

Bevor ich mir auch nur eine Kaffeebohne vorstellen konnte, bestellte Carlo, „Zwei Bier.“

Ich protestierte nicht. Der Mann nickte und drehte sich elegant auf dem Absatz seines Schuhes um.

„Jetzt, wo wir hier so sitzen ...“, ich zog eine Zigarette aus unserer Schachtel, „Findest du nicht, wir sollten mal schauen, wo genau wir im Osten hin könnten, ich meine, Osten ist schon sehr vage.“

„Moment“, er kramte in einer Seitentasche seines Rucksacks nach der Karte. Es dauerte seine Zeit, bis sie von ihrem handlichen Format, das uns den Weg durch die Stadt zur Botschaft und zurück zum Bahnhof ermöglicht hatte, aufgefaltet vor uns lag.

Ich lehnte mich vor und sah die Karte auf dem Kopf, „Was ist das denn da für ein riesiger See?“

„Das Mittelmeer.“

„Toller Witz, zur anderen Seite.“

„Das ist der ... Ohrid-See.“

„Und was für ein Ort liegt da?“

„Pogradic.“

„Wie sieht’s damit aus?“

„Why not. Könnte aber ne lange Fahrt werden, vor ...“

Unsere Bierkrüge landeten sanft vor uns auf dem Tisch, und der Kellner sagte etwas, dass er gleich darauf auf Italienisch wiederholte.

Carlo nickte und bot ihm einen Stuhl an. Er setzte sich zu uns und lächelte.

„Gezuar!“, prosteten wir ihm zu, und die dicken Halbliterkrüge klirrten aneinander.

Der Mann lachte und wiederholte unsere Gezuars.

Natürlich mussten wir auch ihm über unseren Urlaub erzählen, und er freute sich an unserem Interesse an seinem Land, und, dass wir uns sogar die Mühe machten, Albanisch zu lernen, einfach unglaublich.

Carlo und er unterhielten sich angeregt, ich verstand mittlerweile einige Brocken Italienisch.

Unsere Krüge waren gerade halb geleert, da kam sein 16-jähriger Sohn mit drei neuen vorbei und stellte das Trio auf den Tisch. Er sagte etwas zu seinem Sohn, während er auf Carlo deutete, aber sein Sohn runzelte nur die Stirn.

Wir exten den Rest und stießen mit unserem Gönner an.

Diese Runde ging auf ihn, vor allem wollte er unser deutschakzentuiertes „Gezuar“ noch einmal hören.

Also nahmen wir gleich einen zweiten tiefen Schluck. Dann fragte er nach unserer Reiseroute.

Bei Pogradic bekam er leuchtende Augen. „Das ist eine gute Entscheidung! Das muss ein schöner Ort sein, schließlich haben dort bis vor ein paar Jahren die Parteibonzen immer Urlaub gemacht. Und der große Ohrid-See umgeben von geschwungenen Bergen. Wundervoll.“

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