- Samantha Fox in Pogradic

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Samantha Fox in Pogradic

Sonnige Spaziergänge, Wanderungen bis an die mazedonische Grenze, immer entlang des großen Sees, des Ohrid-Sees, dessen gegenüberliegendes Ufer meist nur zu erkennen war, weil die ihn umrahmenden Berge im Horizont verliefen. Selten zerschnitt ein Boot die glatte Oberfläche des im Windschatten der Berge liegenden Gewässers. Fischen lohnte nicht mehr, der Ohrid-See war so gut wie tot.

Wie tot lagen auch die ehemaligen Anwesen der albanischen Politbonzen an der Küste. Eine breite Allee teilte das abgezäunte Viertel in zwei Hälften. Weite Rasenflächen um ostmoderne Prunkbauten. Jedes Gebäude scheinbar nach individuellen Wünschen entworfen. Großzügige Terrassen, Panoramafenster, geschwungene Balkone, wetterzerfressen.

Warnschilder wiesen am Eingang darauf hin, die Anwesen nicht zu betreten, sie wären bewacht. Tatsächlich patrouillierten vereinzelt Bewaffnete auf dem Gelände verschiedener, zeitweise bewohnter Residenzen. Ihre Augen folgten uns. Lediglich vor einem Haus parkte eine schwarze Karosse, und ein Junge auf Rollschuhen kam uns entgegen. Er spielte alleine. Es war das erste und einzige Kind, das wir in Albanien auf Rollschuhen, Skates oder Skateboards sahen.

Die Allee war mit Zementplatten gepflastert, wie man sie von den Fernstraßen der neuen Bundesländer kannte. Grasnarben wuchsen aus klaffenden Zwischenräumen. Das dumpfe Geräusch der Rollschuhe wurde in unregelmäßigen Abständen von Stolpern unterbrochen.

Jenseits der Nobelsiedlung am Rande Pogradics kündigten riesige Felder das Niemandsland zwischen Albanien und Mazedonien an. Wir setzten uns auf einen Einmannbunker, der strategisch wichtig an der Kreuzung zweier Feldwege platziert worden war.

Man konnte die militärische Absicht hinter all den Bunkern erkennen. An jeder Straßenkreuzung des Landes stand mindestens einer, außerdem in Berghängen, die ein gewisses Areal übersahen, manchmal vier oder fünf zusammen. Stumme Zeugen Enver Hoxhas Regentschaft, gedacht als Bollwerke gegen übermächtige, feindliche Armeen. Und auch sie konnte der Diktator erfolgreich abschrecken. Obwohl er es sich während des Kalten Krieges nacheinander mit den USA, Russland und China verscherzte, traute sich keine der drei Supermächte in das supersichere Albanien einzumarschieren, geschweige denn Fallschirmjäger zu entsenden.

In weiter Ferne fuhr jemand Heu ein. Ein Muli zog ein einachsiges Gefährt, auf dem sich haushoch das Stroh türmte. Ansonsten war unser Einmannbunker die höchste Erhebung im Umkreis. Wir kamen uns vor wie zwei Raubvögel.

Es war warm und still. Windstill.

Ich erinnerte mich an die langen Abende mit Carlo zuhause, das Erzählen, das Lachen, das Sexen, das Rauchen und Trinken und Musikhören, bis der erste Vogel im Morgengrauen wieder zu singen begann. Wir schauten uns auch oft Videofilme an. Das war weitaus günstiger als Kino und ein paar Drinks waren auch drin. Eines Abends hatten wir Clerks. Für uns warf der Film wirklich existenzielle Fragen auf. Wollten wir so enden? Als Studenten, die in Sackgassenkarrieren ihr Leben fristeten, sich durch sinnlose Aktivitäten die Zeit versüßten und bis Anfang 30 vielleicht sogar als cool rüberkamen? Es wurde ein früher Morgen, wahrscheinlich die unbewusste Geburt unserer wahnsinnigen Idee.

„Was denkst du jetzt“, fragte Carlo, ohne mich anzuschauen, weil wir auf der Bunkerkuppel in einem 45-Grad-Winkel zueinander saßen, und atmete eine große Wolke Nikotin aus, die sich nicht ausbreitete und zerfaserte, sondern einfach langsam von unserer Position wegschwebte, als wäre sie von einem Mantel umschlossen.

„Ich hab über die Zeit nachgedacht, wenn jeder von uns alleine weiterzieht.“

„Und?“

„Schade find ich es.“

Er nahm einen Zug von seiner Zigarette, „Aber unvermeidbar.“

Wir hatten uns das bereits alles genau überlegt. Über Albanien hinaus wollten wir auf keinen Fall gemeinsam herumreisen. Ein paar Wochen wollten wir verstreichen lassen, bevor wir uns über die neue E-mail-Adresse beim anderen melden würden. Über Email wollten wir uns dann verabreden, wo wir uns wieder treffen würden.

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