- Philosophieren beim Bier

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Philosophieren beim Bier

Wir saßen uns an einem der zwei kleinen Tische gegenüber, die auf dem schmalen Bürgersteig vor der Kneipe am Osum standen. Die Dämmerung tauchte den Fluss, die Stadt und die Hügel in blaues Licht.

Schwer lag das opulente Abendessen von Frau Lubonja in unseren Bäuchen. Wir hatten der Familie versprochen, gegen zehn Uhr wieder zurück zu sein. Es gab keinen Zweitschlüssel für ihre Tür. Den Einzigen hatte Herr Lubonja.

Angewidert inspizierte Carlo nach dem ersten Zug die Zigarette und atmete mit verzogenem Gesicht den Rauch aus, „Meine Hände riechen immer noch nach Kaffee.“

Der Qualm unserer Zigaretten zog direkt unter die löchrige Marquise, die durch ihre zahlreichen Risse wahrscheinlich die Abzugseigenschaften eines offenen Kamins hatte.

„Bist doch sonst so ein großer Kaffeetrinker.“

„Ja, aber wenn ich rauche, rauche ich. Und da will ich Nikotin riechen. Bei einer Zigarette habe ich genaue Vorstellungen, wie sie zu riechen hat,“ Carlo wechselte die L&M in die andere Hand und vergewisserte sich, indem er vorsichtig an seinen Fingern schnüffelte. Dann winkte er ab und griff mit einer fließenden Bewegung sein Bier.

Auch ich trank, setzte ab und verschränkte meine Arme hinter dem Kopf. Mir ging es gut. Wir hatten eine fantastische Unterkunft mit tollen Menschen, das Wetter war angenehm, sahen viel Neues und Ungewohntes, waren viel an der frischen Luft, wir tranken oft Kaffee und konnten uns ein paar Bier leisten, wir lebten in den Tag hinein. Wir suchten keinen Luxus. Wir suchten Zeit. Zeit hieß der entscheidende Faktor meines Glücks. Zeit für Gespräche, Zeit zu schweigen, Zeit neue Leute kennen zu lernen, Zeit die Landschaft zu betrachten, Tiere zu beobachten, Menschen, die Gedanken schweifen zu lassen, oder, wie es andere sagen, zum sinnlosen herumgammeln. Vor allem hatten wir hier, wie erwartet, keinen Stress wegen des Geldes. Ob die Polizei in Deutschland uns im Visier hatte, das kümmerte uns hier nicht.

Das Leben tat richtig gut. Ausruhen. Nachdenken. Nach den verschiedenen Zeitaltern des materiellen oder physisch-medizinischen Fortschritts war es sowieso Zeit, dass der Mensch mal etwas an sich selber tun würde, an dem, was uns vom Tier unterschied: an dem Bewusstsein. Den Daumen haben wir als Entwicklungsvorsprung ausgereizt.Es war Zeit für ein neues Zeitalter. Vielleicht für das Zeitalter des Philosophierens und des Träumens, um den wissenschaftlich industriellen Standard zu wahren und Fortschritte im Menschsein zu erreichen, um so auf das kommende dritte Jahrtausend zu wirken, der gesamten Menschheit dienlich zu sein, dem Sapiens Sapiens gerecht zu werden. Ich war auf dem richtigen Weg. Gerade fand ich mich im Einklang mit einfach allem. Darauf einen kühlen Schluck Bier.

Ich angelte mir die Zigarettenpackung, die typischerweise auf Carlos Seite lag, und zündete mir eine an. Auch Carlo befand sich innerlich woanders. Sein Blick war starr über die Straße und den Fluss, dessen Bett etwas weiter unten hinter einer Mauer lag, auf ein unsichtbares Ziel in den Bergen gerichtet. Der Fluss führte so wenig Wasser, dass man ihn nur vermuten konnte.

Die Kapelle, die wir besucht hatten, war nach Einbruch der Dunkelheit mit Dutzenden orangefarbenen und gelben Glühbirnketten beleuchtet. Ebenso die einspurige Brücke über den Osum.

Dunkel lag der Himmel schwer und dicht über der Landschaft. Seit Stunden war ein Regenguss fällig. Schwül waberten gelegentlich die Abgase von vorbeirasenden Fahrzeugen zu uns herüber.

Eine Gruppe Männer hatte sich vor einiger Zeit an den Nachbartisch gesetzt. An der Theke, die durch die sperrangelweit geöffneten Fenster zu sehen war, sprach der Kellner mit einem älteren Herrn. Die Kneipe war in einem angenehmen hellen Holz gehalten, goldene Stahlstreben durchzogen die Bretter der Theke. Die Tische waren sauber gewischt, ordentlich standen die Stühle an den leeren Tischen. Einzig auf dem Tisch der vier Männer neben uns standen ein gutes Dutzend leerer Bierflaschen. Passanten mussten um die Tische, die draußen standen, einen Bogen über die Straße gehen, da der Bürgersteig zu schmal war. Niemand regte sich darüber auf.

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