Kapitel 1 - Empfängnis der Visionen

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"Majestät, die Orakelsteine sprechen!" Mit fiebrig glänzenden Augen stürmte der König des Gezeitenwaldes durch den Torbogen und befahl mit einer herrschenden Geste sofortiges Verlassen des Thronsaales. Sollte er endlich finden, was er sich so sehr sehnte? Das flüsternde Schwert Nocturna, das Schwert des Erhabenen Königs, ein Schwert, die Welt zu regieren?

Den Atem anhaltend näherte er sich der Schale mit den drei wurzelförmigen Steinen, die weniger denn je wie Steine erschienen. Zuckend und laut mahlend wälzten sich die handgrossen Steine und gaben seufzende Laute von sich.

"Orakel, hört mich an!", sprach der Elfenkönig beschwörend die so oft gewählten Worte für jenen bedeutenden Moment. "So soll es denn sein, dass ich, der Elfenkönig und Herr des Gezeitenwaldes, der rechtmässige Erbe des Nocturna sei."

Die Steine verharrten in ihren unruhigen Bewegungen und nahmen die Worte des Königs flüsternd auf.

"Drei Herrscher, fünftausend Monde. Möge sich mir nun offenbaren, wo mein Erbe ich antreten werde." Mit diesen Worten näherte der weisshaarige Elf seine zitternde Hand der Schale, um die Steine anzurühren. Hundertfach wiederholten diese mit schrecklich flüsternder Stimme das Gesagte und erfüllten den Raum. Als sich Haut und Orakel berührten, konnten die Wachen vor dem mit schweren Tüchern behangenen Tor deutlich vier Schreie vernehmen. Alarmiert wagten sie sich mit gezückten Schwertern in den Saal, um ihren König ohnmächtig am Boden liegend vorzufinden.

Die Steine in der Schale hatten alles Magische verloren. Stumm und bewegungslos, als hätte die Ewigkeit sie eingefroren.

In einem unbedeutenden Dorf, angrenzend an den Gezeitenwald

Im allerersten Moment herrschte Verwirrung, als Liyan, der Barde, mit einem spitzen Schrei in seine Harfe stürzte, während nur wenige Meter von ihm ein zweiter Schrei wie ein Echo ertönte. Jorin brach das Lied ab und war sofort an der Seite seines Begleiters. Er fand seinen Freund am Boden liegend, nun nicht mehr schreiend, ohne Bewusstsein.

"Sarina! Er ist ohnmächtig..." "Das sehe ich und nun hinfort mit euch, ich brauche Platz!" Die Heilerin liess sich neben dem Elf nieder und tastete behutsam nach seinem Herzschlag. Einigermassen beruhigt bedeutete sie Jorin, ihr aufzuhelfen. "Bringt ihn in mein Empfangsraum, er braucht nunmehr Ruhe."

"Hier ist eine weitere Elfe bewusstlos!" Sich einen Weg durch die aufgebrachte Menge der Schaulustigen und Zuhörer des Barden bahnend war ihr Fluchen höchst unelfisch zu vernehmen. Auch die Elfe hatte ihr Bewusstsein scheinbar grundlos verloren und wurde zusammen mit Liyan fortgeschafft.

"Guten morgen, Barde. Erwartet kein ausgiebiges Mahl von einer alten Heilerin. Zuerst gewährt Ihr mir ein paar Antworten, dann erhaltet Ihr im Austausch Suppe und Mahrma. Was hat sich zugetragen? Woran erinnert Ihr Euch?"

Stöhnend richtete sich Liyan in dem für Genesende vorgesehenen Bett auf und führte seine Rechte zur Stirn. "Was ist passiert, Barde?", bellte die Sarina nun und erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl. Eine Antwort blieb er der Heilerin allerdings schuldig, da in diesem Moment auch die Elfe erwachte und just zu Weinen begann. Die Alte warf dem Barden einen verwarnenden Blick zu, der ihm verdeutlichte, dass dieses Gespräch nur aufgeschoben war.

Liyan schloss erschöpft die Augen und versuchte vergeblich, so schien es ihm, seine zähflüssigen Gedanken in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Er hatte plötzliche während des Harfespielens einen Schmerz wie nie zuvor in seinem Leben verspürt. Sein Herz war zerrissen worden, dessen war er sich sicher. Und da war diese Elfe gewesen!

Das Gewimmer der Unbekannten war verstummt und dem leisen Summen Sarinas gewichen, die sie beruhigend in den Armen wiegte. Schlagartig wurde Liyan bei diesem Anblick bewusst, dass jene Vision keine einfache Träumerei gewesen sein konnte. Vor ihm sass die Elfe, die er zuvor in seiner Ohnmacht gesehen hatte! Mit zunehmender Gewissheit erbleichte der Barde, als er erkannte, dass er das Mädchen vor wenigen Augenblicken durch einen Dolch hatte sterben sehen. Ohne den Blick von ihr abwendend tastete er nach seinem Hüftgurt und spürte seinen Dolch. ER hatte sie damit erstochen!

Nach dem gegenseitigen Geständnis hatte Sarina die beiden verschreckten Elfen gebeten, Alana aufzusuchen, die Vertraute des Fürsten der Beleor-Wälder, ein abgestecktes Teilgebiet des Gezeitenwaldes. Diese war bekannt für ihre Gabe, ebenfalls Visionen zu erhalten.

Sogleich hatte sie das vom Schicksal zusammengeführte Gespann mit Pferden und Proviant für eine Woche ausgestattet, wenngleich Liyan die Reise lieber auf seinem eigenen Ross angetreten wäre. Doch die Elfenpferde waren weitaus belastungsfähiger und schneller als sein halb so grosser Rappe, den er schweren Herzens in Jorins Hände übergab.

Szouma war nach Bekanntgabe ihrer Vision in gedankenverlorenes Schweigen verfallen. Der Barde ging ihr, so gut es eben ging, aus dem Wege, er konnte sich nicht einmal vorstellen, was in ihr vorgehen musste. Ausserdem sollte sie mit ihrem eventuellem Mörder eine Reise unternehmen! Seine eigene Vision war von so klarer Natur gewesen, dass er selbst kaum glauben konnte, dass es nicht Realität gewesen war. Nur ihr Anblick versicherte ihm, dass es nicht geschehen war.

Es dauerte keine Woche und Sarina konnte die Beiden zu den gesattelten Elfenpferden bringen und ihnen Segen für die bevorstehende Reise und deren weiteren Verlauf wünschen. Wer wusste schon welche Wichtigkeit dem Elfengespann zuteil werden würde?


Erst als es bereits dämmerte, brach Liyan das Schweigen, dass sie seit dem Aufbruch im Morgengrauen begleitete.

"Szouma, wenn Ich Euch denn so ansprechen darf, es wäre nicht unvernünftig für ein Nachtlager zu sorgen. Dort hinten, nicht weit von der nächsten Kreuzung entfernt, befindet sich eine Lichtung, an der ich schon oft die Mondfürstin besang. Sie liegt zudem nahe bei einem Gewässerchen. Wenn Ihr wollt, so lasst uns dort lagern."

Die junge Elfe nickte, hielt ihren Blick jedoch fest auf den Weg vor ihr gerichtet. Die Lichtung erwies sich genau wie beschrieben und selbst wenn die Sonne unterginge, so würde man doch im Mondschein noch alles gut erkennen können. Das Herz des Barden wurde für einen Moment leichter, wie jedes Mal, wenn er diese Schönste alles Lichtungen betrat. Dieser Ort hatte etwas Besonderes für ihn. Im Hintergrund hörte man den Bach fliessen und die Bäume schienen einen Kreis zu bilden, damit das Licht des Mondes und das der Sterne hier den Erdboden konnten.

Dann streifte Liyans Blick die Elfe und ein Anflug von Schwermut kam in ihm auf. In tiefer Trauer und blind für die Schönheit der Natur ob der Visionen stieg sie schweigend von dem schwarzen Elfenpferd, dass den Namen Nachtwind trug. Auch Liyan sass ab und entlud den silberfarbenen Rappen. Die Pferde begannen sogleich zu grasen, während die Beiden das Lager errichteten.

Wenig später sassen sie, noch immer schweigend, bei einem Feuer und rösteten das Mahlma, süsses nahrhaften Elfenbrot.

"Wer seid Ihr, Szouma?" Die junge Elfe hielt mit dem Essen inne und schaute Liyan, zum ersten Mal, wie ihm schien, direkt an. "Wer ich bin? Was wollt Ihr von mir hören?"

"Wo Ihr herkommt, warum Ihr in Kelondria seid. Ihr seht so anders aus als die hier heimischen Elfen, mit Eurem Haar, das die Farbe des Mondlichtes hat." Szouma lächelte schwach und schaute wieder in die rot zuckenden Flammen. Und in diesem Moment erkannte er das volle Mass ihrer Andersartigkeit. Es war nicht nur ihr Haar und auch nicht ihre Grösse, sie war immerhin einen ganzen Kopf kleiner als die Elfen hierzulande, männliche und weibliche Elfen unterschieden sich in diesem Kriterium kaum voneinander.

Sie war schön. Zwar waren alle Elfinen von zierlicher Gestalt und mit Schönheit beglückt, doch wiesen ihre Augen nicht diese Tiefe, dieses Unergründliche, Sehnende auf. Liyan selber besass ein graues Augenpaar, schwarzes, langes Haarvon dem er einen Teil, der ihm sonst die Sicht nahm, zurückgebunden und geflochten trug.

"Ere Vision, wenn sie Euch genauso peinigt, wie mich die Meine, so tut es mir Leid."

Szouma machte eine abfällige Bewegung und Traurigkeit in ihren Augen verwandelte sich in Spott. "Seid Ihr Euch sicher, dass es die gleichen Visionen sind? Was wisst Ihr schon, wie die Meine verlief, ausser dass ein Kind starb? Und sein Ihr der Meinung zu wissen, wie es ist, mit seinem etwaigen Mörder zu reisen? Erlaubt mir zu zweifeln!" Mit diesem Worten stand sie auf und verliess die Lichtung.

Das Schicksal der CandadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt