Mitten in der Nacht wachte ich auf. Hatte ich vor unserem Zimmer Schritte gehört? Nein, sicher war das nur das Holz gewesen. Man hörte in der Nacht oft das Holz sprechen, wenn ich wach wurde stellte ich mir immer vor, wie es mit mir sprach und mir wunderbare Geschichten erzählte. Geschichten, in denen ich eine Prinzessin war.
Doch in dieser Nacht war es anders, dieses Mal hörte ich wie jemand die Treppe nach oben kam und in Richtung des Zimmers lief, in dem wir schliefen. Hier schlief ich mit den anderen Mägden meiner Familie.
Vielleicht, wenn ich mich schlafend stellte, würde der Verbrecher mir nichts tun. Ich legte mich auf die Seite und schloss die Augen. Vor der Tür verstummten die Schritte. Hatte es sich der Dieb doch anders überlegt?
Krampfhaft versuchte ich meine Atmung zu kontrollieren. Wer auch immer dort war, sollte mich nicht hören. Sollte denken ich schliefe. Am anderen Ende des Raumes hörte ich wie die Tür geöffnet wurde, darauf bedacht kein Aufsehen zu erregen. Weiter versuchte ich leise zu sein und so zu tun, als ob ich schliefe. Ich hoffte ich war gut darin. Ich wollte nicht sterben oder andere Scheußlichkeiten von diesem Verbrecher angetan bekommen. Ich wollte weiterhin behütet leben, so wie es mein ganzes Leben gewesen war. Wieso war mein Vater jetzt nicht hier? Er würde mich beschützen, dann bräuchte ich keine Angst zu haben.
Ich spürte, wie sich Tränen einen Weg durch meine Lider zu bahnen versuchten. Ich versuchte sie aufzuhalten, keinen Ton von mir zu geben. Hinter mir bewegte sich der Verbrecher immer näher auf mein Bett zu. Es war kein richtiges Bett, nur eine Strohmatratze und als Decke diente mir ein altes Lacken. Direkt an meiner Matratze blieb der Verbrecher stehen. Hatte er etwa bemerkt, dass ich wach war und wollte mir jetzt etwas antun? Ich war verzweifelt. Sollte mein junges Leben etwa schon nach vierzehn Lenzen vorbei sein?
„Dorothee. Das wird sie sein!" Hatte er etwa nach mir gesucht? Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Panischer Angst. Stumm betete ich alle Gebete die mir einfielen. Wenn Gott mir nicht half, musste ich wohl sterben. Der Verbrecher hinter mir bewegte sich. Diesmal war er auf den Weg auf die andere Seite meiner Matratze.
Vielleicht wollte er mir ins Gesicht sehen, wenn er mich tötete. Doch als er direkt vor mir stand, tat er nichts. Vielleicht wartete er, bis ich ihn ansah. „Dorothee. Ich weiß, dass du wach bist!", schallendes Gelächter ertönte.
Die anderen hätten den Mann schon längst bemerkt haben müssen. Vielleicht war all das nur ein Traum? Ich hoffte es so sehr. Doch als ich seine Hand an meiner Wange spürte, wusste ich, dass das alles real war. Mein realer Tod. „Wach auf, Mädchen!", mit jedem Wort wurde er brutaler. Schnell schlug ich meine Augen auf. Vielleicht würde er mich dann in Ruhe lassen.
Doch als ich auf die Stelle blickte, an der er eigentlich stehen müsste, sah ich nichts. War es doch nur Einbildung? Man sagte ja, dass wenn man krank wurde, fantasierte. „Du träumst nicht. Du willst mich nur nicht sehen. So wie viele Menschen. Weil ihr kleinen, mickrigen Gestalten Angst habt!", wieder dieses bedrohende Gelächter. Also nahm ich mir vor, dass ich ihn, wer auch immer das war, sehen wollte. Und auf einmal stand da der schönste junge Mann, den ich je gesehen hatte.
Wieso sollte ich Angst vor diesem Mann haben? „Das wirst du noch sehen. Morgen sehen wir uns wieder. Aber jetzt muss ich gehen. Die anderen werden dich für verrückt halten, wenn du so schaust!", noch einmal dieses Lachen, welches mir eine Gänsehaut bereitet und der junge Mann war verschwunden.
Nach dieser Begegnung hatte ich die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Wie auch? Das war die schlimmste Nacht meines Lebens. Und doch hatte sie einen bittersüßen Geschmack nach mehr hinterlassen. Einen bittersüßen Geschmack auf eine weitere Begegnung mit diesem wunderschönen, jungen Mann.
Am nächsten Morgen stand ich wie immer noch vor Sonnenaufgang mit den anderen Mägden auf, um meine Arbeit bei dieser Familie zu verrichten. Heute stand etwas Seltenes bevor: Wir gingen Flieder pflücken. Eine Arbeit die mir Spaß machte und bei der ich für ein paar Stunden vergessen konnte, was für ein schreckliches Los ich hatte.
Noch bevor die anderen Stadtbewohner aufwachten, machten wir uns auf den Weg zu den Feldern, außerhalb der Stadt. Ganz dicht bei den gelben Feldern, die geradezu vor Weizen zu platzen schienen, gingen wir ein Stück am Waldrand entlang, wo ein paar Fliederbüsche standen. Sofort fingen wir mit Freude an, unsere Arbeit zu verrichten und keiner achtete darauf, wie schnell die Zeit verging.
Als wir uns zu einem kleinen Picknick am Ufer eines Baches versammelten, sah ich ihn. War er uns gefolgt und hatte uns die ganze Zeit beobachtet? Eigentlich hätten die anderen ihn auch sehen müssen, doch sie alberten herum und achteten gar nicht auf ihn.
Ich sprach das Mädchen neben mir an, Marie. „Siehst du den jungen Mann dort hinten? Kommt er dir auch so bekannt vor?", abwartend schaute ich ihr ins Gesicht, doch nachdem sie auf die Stelle geschaut, auf die ich sie verwiesen hatte, schaute sie mich nur skeptisch an. „Ich glaube du hast zu viel Sonne abbekommen. Du solltest ein wenig in den Schatten gehen!", damit setzte sie sich noch ein Stück näher zu den anderen Mädchen und beachtete mich gar nicht mehr.
Aber dort stand doch dieser wunderschöne junge Mann, oder etwa doch nicht? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass nur ich ihn sah. Vielleicht war ich doch ein wenig zu lang in der warmen, sommerlichen Sonne gesessen?
Noch einmal starrte ich auf die Stelle, an der der Mann gestanden hatte. Und tatsächlich, er war verschwunden. Ich wurde wirklich noch verrückt. Sah einen Mann, wo kein Mann war. Langsam ging ich in den Schatten. So wie ich ging, konnten die anderen doch nur denken, dass ich verrückt war. Sie würden wahrscheinlich nie wieder mit mir reden.
Unter einer großen Eiche legte ich mich hin und versuchte nicht mehr an den geheimnisvollen Mann zu denken. Vielleicht war er doch nur eine Ausgeburt meiner Träume. Immerhin hatte ich ihn gestern Nacht gesehen, als ich noch halb im Schlaf war. Das musste es sein. Ich hatte zu wenig Schlaf! Da war es nur natürlich, dass ich Gespenster sah. Auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass ich mir so einen wunderbaren Mann nicht nur vorstellen konnte. Er musste einfach real sein! In meinem inneren Zwiespalt bemerkte ich gar nicht, wie die anderen wieder an die Arbeit gingen. Sollte mir nur recht sein. Ich wollte mich ja nicht zu Tode arbeiten. Als ich weiterhin dort saß und den Wald blickte, bemerkte ich den Mann wieder nicht. Auch nicht, als er auf mich zukam und direkt neben mir zum Stehen kam.
„Darf ich mich zu dir setzen?", seine wunderbare Stimme erfüllt mich voll und ganz und wie betäubt nickte ich. So ein Bild von Mann konnte man gar nicht abweisen. Jede Frau hätte so reagiert. Wenn sie ihn gesehen hätte und nicht verrückt wurde, wie ich. „Die anderen glauben dir nicht", er war keine Frage, mehr eine Feststellung. Wenn ich selbst glaubte, dass ich verrückt wurde, was dachten dann die anderen von mir? „Du bist nicht verrückt. Du glaubst einfach an solche Sachen, vor denen anderen Angst haben. Es ist einfach nur ein anderer Glaube", der junge Mann lächelte mich an und hob seine Hand, um mir eine vorwitzige Strähne hinter das Ohr zu stecken. Bei seiner Berührung überkam mich ein angenehmer Schauer.
Wer war dieser Mann, dass er solche Dinge mit mir machen konnte? Er kam mir vor wie ein Gott. Aber konnte so etwas sein? Die Priester sagten uns immer, dass es nur einen Gott gab und alle die an mehrere oder an einen anderen Gott glaubten, vom Teufel besessen seien. Aber wie konnte es dann sein, dass hier neben mir ein Gott saß? War ich etwa vom Teufel besessen? Ich hoffte es nicht, ich hatte gehört, was man mit Leuten getan hatte, die vom Teufel besessen waren. Sie wurden grausam getötet. Gefoltert und dann getötet. So wollte und konnte ich nicht enden.
Am Sterbebett meines Vaters hatte ich geschworen zu überleben und ein glückliches Leben zu führen. Da konnte ich nicht so bald sterben. Und wenn ich als Hexe starb, dann würde ich meinen Vater im geheiligten Paradies bei Gott nicht mehr sehen. Ich würde in die Hölle, zum Teufel, kommen. Aber war ich wirklich eine Hexe, weil ich einen jungen Mann sah, den die anderen durch ihre Unaufmerksamkeit nicht wahrnahmen?
„Du denkst zu viel nach. Mach dir keine Gedanken. Du wirst nicht als Hexe getötet. Diese dummen Priester wissen ja nicht, dass es viel mehr braucht, als Kräuter um in die Hölle zu kommen!", er lachte und sein schönes Gesicht verzerrte sich zu einer schauerlichen Maske. War ich gerade dabei mich mit dem Teufel einzulassen? Konnte es wirklich sein, dass dieser Gott der hier vor mir saß, mit dem Teufel im Bunde war oder sogar diesen auf unserer wunderschönen Welt verkörperte?
„Was haben sie nur aus den Menschen gemacht? Hätten sie dich nicht verdorben, würdest du nicht solche Gedanken hegen. Aber du wirst schon noch sehen, dass nichts so ist, wie es scheint!", mit jedem weiteren Wort wurde er liebevoller und begann meine Wange zu streicheln. Langsam ließ er seine Hand weiter zu meinem Hals gleiten und überall dort, wo er mich berührte, bekam ich eine Gänsehaut. Wenn dieser Mann den Teufel verkörperte, so war ich doch sehr geneigt ihm nachzugeben und mich auf die böse Seite der Welt zu schlagen. Für diesen Mann würde ich alles tun.
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Geschichte einer Hexe
Historical FictionDorothee ist eine gewöhnliche Magd, doch sieht sie Dinge, die andere nicht sehen. Eines Abends besucht sie ein mysteriöser Unbekannter und sie hat keine Ahnung, dass er sie in ihr Unglück treiben wird. Dies ist eine Geschichte über eine der bekan...