Kapitel 9

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Die letzten Jahre haben mich kaputt gemacht. Ich vermisse meine Eltern. Meine Mutter, die mir jeden Tag bevor sie zur Arbeit musste, ein Spiegelei gebraten hatte und es liebevoll für mich auf dem Esstisch servierte. Meinen Vater, der mit mir so oft Fahrrad fahren geübt hatte, bis ich es konnte. Er hat nie aufgegeben, egal wie oft ich das Gleichgewicht verloren hatte und auf den Boden prallte. Er hat immer an mich geglaubt. Und ganz plötzlich, ist alles vorbei. 

So viel nachzudenken wird mich irgendwann kaputt machen. Nicht weil es nicht zu ertragen wäre, nein. Viel mehr, weil ich mich mit diesen Gedanken ganz alleine fühle. Ich weiß nicht, was ich tun soll und ich weiß nicht, wohin. Ich renne schon lange durch die Gegend ohne Ziel. Es wäre so leicht, mich zu entscheiden, wenn ich wüsste, was ich will. Alles scheint so sinnlos zu sein. Und an manchen Tagen frage ich mich, bin das noch ich? Habe ich mich überhaupt jemals gefunden?

Seit Nächten habe ich schon wieder kaum geschlafen. Diese Gedanken hören nicht auf. Sie lassen mich nicht schlafen. Sie quälen mich. Mein Kopf bringt mich irgendwann um. Warum mache ich mir durch so viel Nachdenken alles so schwer?

Seit dem Treffen mit Taddl sind einige Tage vergangen. Tage, an denen ich viel nachgedacht habe, mal wieder. Ich dachte wirklich, jetzt würde alles besser werden, doch das wird es nicht. Ich bin zu naiv. Meine Vergangenheit wird mich immer einholen, egal wie sehr ich versuche, sie zu verdrängen.

»Hallo?«, spreche ich in das Telefon hinein, das zuvor noch geklingelt hatte.

»Liv Johnson.«, höre ich eine tiefe Stimme in der anderen Leitung. Ich erkenne die Stimme sofort, denn sie ist unverwechselbar.

»Thaddeus Tjarks«, entgegne ich ihm. Ich höre ihn in das Mikrofon lachen.

»Könnte ich vorbei kommen?«

»Ähm, klar.«, antworte ich und frage mich, wieso er seine Zeit mit mir verschwenden möchte.

»Okay, cool.«, er klingt erleichtert, »Ich bin in 10 Minuten da.«, sagt er und legt auf.

Ich setze mich zurück in den Rollstuhl, welchen ich als Schreibtischstuhl verwende, und widme wieder meine volle Aufmerksamkeit meiner angefangenen Zeichnung. Ich habe noch keine Vorstellung, was aus dieser Zeichnung werden würde, so wie es bei den meisten meiner Zeichnungen der Fall ist.

Ich schalte meine Stereoanlage ein. Es ist bereits eine CD eingelegt und ich höre Kurt Cobain aus den Lautsprechern schreien.

"I'm a negative creep and I'm stoned!"

Und während ich zeichne, denke ich über Kurt's Stimme nach. Ich glaube, er ist deswegen so gut, weil er keine Angst vor seiner Stimme hat. Und er ist deswegen so laut, weil er dem Monster direkt ins Gesicht sieht und ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als dagegen anzukämpfen. Und obwohl er so stark scheint, hat er sich umgebracht, denke ich mir.

»Liv?«

Ich schrecke kurz zusammen und bin erleichtert, als ich in Taddls blaue Augen sehe.

»Ich habe dich nicht reinkommen hören, die Musik ist zu laut.«, sage ich und drehe die Musik ein wenig leiser.

»Deine Schwester hat mich reingelassen.«, sagt er und schaut auf die Stereoanlage, »Nirvana also?«

Ich gebe nur ein 'Mmm-hmm' von mir und zeichne weiter.

»Das sieht unglaublich aus«, höre ich und sehe Taddl aus dem Blickwinkel interessiert auf die Zeichnung schauen.

»Danke«

Ich weiss nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Vor nur wenigen Tagen erfuhr Taddl von meinen Narben.
Von meiner Vergangenheit.
Von meinem Leben.

Faking It ☆ TaddlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt