So hatte Sherlock sich das nicht vorgestellt. Er hatte sich zwar Sorgen gemacht, dass John ihm nicht würde zuhören wollen, aber eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass er ihn einfach so abweisen würde.
Sherlock fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er stand immer noch im Flur vor Johns Wohnung, auch wenn dieser die Tür bereits vor zehn Minuten geschlossen hatte. Er starrte die Tür an, als ob diese sich dadurch auf einmal wieder von alleine öffnen würde.
So war das nicht geplant gewesen. Er hatte John den Brief zeigen wollen, ihm alles erklären wollen. Er hatte gedacht, dass, sobald John wusste, worum es ging, er ihm geduldig zuhören würde. Aber er hatte ihn nicht mal richtig zu Wort kommen lassen.
Was sollte er jetzt machen? Erneut klopfen? Sicherlich würde John ihm nicht noch einmal öffnen. Er wollte nicht mit reden, das hatte er deutlich gemacht. Und Sherlock konnte das ja auch vollkommen nachvollziehen, er war ja eigentlich auch nicht sonderlich erpicht darauf, mit John zu reden und Zeit mit ihm zu verbringen. Nicht, wenn er nicht wusste, was dieses ganze Gefühlschaos in ihm drin zu bedeuten hatte.
Aber er wusste, dass er jetzt mit John reden musste. Er schwebte in Gefahr. Deswegen trat Sherlock wieder an die Tür heran und hob die Hand, um wieder anzuklopfen. Er musste John dazu bringen, ihm zuzuhören.
Doch dann klingelte sein Handy. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, zu klopfen und John erneut gegenüber zu treten, dass er zusammenzuckte, als das Klingeln die Stille zerriss. Ärgerlich über sich selbst, nahm er sein Handy und stellte fest, dass Lestrade ihn schon wieder anrief. Er entfernte sich wieder von der Tür und ging zur Treppe.
"Lestrade, was wollen Sie?"
"Hören Sie, Sherlock, ich weiß, dass Sie noch etwas erledigen wollten, aber Sie sollten sofort in die Gerichtsmedizin kommen. Molly hat etwas gefunden."
"Was hat Sie gefunden?"
"Das sollten Sie sich lieber selbst ansehen."
Sherlock sah zurück zu Johns Wohnungstür und biss sich auf die Lippe. Er musste John immer noch warnen. Aber er bezweifelte, dass sich John einfach so überreden lassen würde, ihn doch reinzulassen. Und er hatte keine Zeit mit ihm zu diskutieren. Sherlock zögerte und schloss für einen Moment die Augen. Dann sagte er zu Lestrade, der immer noch auf eine Antwort wartete: "Okay. Ich bin unterwegs." und ging die Treppe herunter.
Er bekam ein Taxi ein Stück die Straße runter und fuhr zur Gerichtsmedizin, aber er bekam John nicht aus dem Kopf, wie er gesagt hatte, dass er gehen solle. Als das Taxi hielt, gab er dem Fahrer das Geld, stieg aus und machte sich auf den Weg in die Gerichtsmedizin.
Er fand Molly und Lestrade in der Leichenhalle. Sie standen bei einem Tisch, auf dem eine Leiche lag; Sherlock nahm an, dass es sich um Kenny Prince handelte, da die Leiche noch abgedeckt war. Molly trug einen ihrer üblichen Pullover unter dem weißen Arztkittel und hielt ein Klemmbrett in den Händen.
"Hey, Sherlock", sagte sie, als sie ihn sah. Lestrade drehte sich um, sichtlich erleichtert, da er anscheinend nicht wusste, was er mit den neuen Informationen anfangen sollte. Sherlock runzelte die Stirn. Er hatte bereits Erfahrungen mit der Unfähigkeit Scotland Yards, aber er dachte, dass es diesmal wohl nichts damit zu tun hatte. Moriarty spielte immerhin sein verqueres Spiel mit Sherlock, und nicht mit Lestrade. Also würde er auch nur solche Hinweise hinterlassen, mit denen Sherlock etwas anzufangen wusste. Er war derjenige, der Moriartys Rätsel lösen sollte. Er hatte noch nie Rätsel gemocht.
"Sherlock, schön, dass Sie es noch geschafft haben. Molly?"
"Oh ja, kommen Sie her." Molly ging zum Tisch mit der Leiche, um ihm zu zeigen, was sie gefunden hatte. Sherlock folgte ihr und Lestrade gesellte sich auch zu ihnen.
"Also, da dieser Fall ja dringend ist, habe ich Kenny Prince quasi sofort obduziert, und etwas Ungewöhnliches entdeckt. Ich habe auch direkt Lestrade angerufen, weil ich nicht wusste, was es zu bedeuten hatte." Sie hob das weiße Laken, das die Leiche bedeckte, an und zeigte auf eines der Handgelenke. Sherlock beugte sich vor und besah sich die Fesselspuren. Es waren die gleichen wie bei Julia Ricoletti. Doch es waren nicht die roten Striemen, die Sherlock interessierte; er sah sofort, was Molly gemeint hatte. In die Haut waren drei kleine Zeichen geritzt, vermutlich mit einer Messerspitze.
15 C
"Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber ich dachte, dass es möglicherweise wichtig für diesen Fall sein könnte", redete Molly weiter.
"Also ich habe absolut keine Ahnung, was diese Zeichen mit unserem Fall und mit Moriarty zu tun haben sollen. Aber sie werden ja bestimmt nicht ohne Grund dem armen Teufel in die Haut geritzt worden sein."
"Ich kann sagen, dass sie dem Opfer erst nach seinem Tod zugefügt worden sind", beruhigte Molly ihn.
"Wenigstens etwas. Aber warum?", fragte Lestrade, an Sherlock gerichtet.
Doch der hörte den beiden gar nicht zu. Er schaute auf die Zeichen und wusste ganz genau, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Und er wusste auch, wo. Auf einem Messingschild an einer Wohnungstür. Johns Wohnungstür.
Er richtete sich ruckartig auf. Natürlich konnten Molly und Lestrade nichts mit diesen Zeichen anfangen. Sie kannten nicht Moriartys Brief, wussten nicht, dass John etwas damit zu tun hatte. Aber Sherlock schon. Der Brief und dieser Hinweis waren nur für ihn gewesen. Moriarty hatte es nur auf ihn abgesehen.
"Sherlock, alles in Ordnung?", fragte Molly; sie klang besorgt. Für einen kurzen Moment fragte sich Sherlock, wie er aussah. Blass? Ängstlich? Besorgt? Aber dann war der Gedanke wieder weg und er verließ fluchtartig den Raum. Er konnte noch hören, wie Lestrade ihm hinterherrief, was denn los sei, aber er ignorierte ihn einfach.
Er rannte aus dem Gebäude und auf die Straße und lief auf ein Taxi zu. Hastig öffnete er die Tür und nannte dem Fahrer Johns Adresse. Die Fahrt verging quälend langsam. Bei jeder roten Ampel und bei jedem trödelnden Auto vor ihnen, fluchte er innerlich.
Dann waren sie da und er drückte dem Fahrer Geld in die Hand, wahrscheinlich viel zu viel, aber das war ihm in diesem Moment egal. Die Haustür war verschlossen und erneut sah er die Namensschilder an. Doch diesmal verweilte er nicht lange, sondern drückte sofort auf das Schild mit der Aufschrift J. H. Watson.
Nichts passierte.
Er drückte noch einmal drauf, länger. Dann drückte er mehrmals hintereinander auf den kleinen weißen Knopf, was doch sicherlich ein nerviges Geräusch in der Wohnung verursachte, oder nicht? Aber immer noch nichts. John konnte doch nicht wissen, dass er es war. Oder schaute er aus dem Fenster, um eine eventuell weitere Begegnung mit Sherlock zu vermeiden?
Sherlock entfernte sich ein paar Schritte vom Gebäude und sah hoch. Aber hinter keinem der Fenster rührte sich etwas. Hatte John vielleicht die Wohnung verlassen? Wenn ja, freiwillig oder nicht? Das war die Frage, die Sherlock nicht los ließ.
Aber er hatte Glück. Erneut kam jemand aus dem Gebäude heraus und schnell sagte er: "Könnten Sie die Tür kurz aufhalten?"
Der Mann sah ihn nicht einmal richtig an, vergewisserte sich nicht, dass es ein Nachbar oder so war, sondern hielt einfach nur die Tür auf und ging dann weiter. Sherlock beachtete ihn ebenso wenig und sprang die Stufen hoch. Wieder ergriff ihn die Unsicherheit, doch diesmal mischte sich auch Angst darunter.
Mit schnellen Schritten ging er auf die Wohnungstür zu und blieb dann plötzlich stehen. Er spürte jeden einzelnen seiner Herzschläge deutlich in seiner Brust und konnte sich für ein paar Sekunden nicht bewegen. Johns Wohnungstür war nur angelehnt.
Langsam ging er darauf zu und er dachte, vielleicht hatte er nur vergessen, sie zuzumachen, aber gleichzeitig wusste er, dass John, als Exsoldat und Militärarzt, niemals seine Wohnungstür offen stehen lassen würde.
Er hob die Hand und schob die Tür vorsichtig auf. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ seinen Herzschlag beschleunigen. Alles war verwüstet. Bücher lagen auf dem Boden, bedeckt von Glassplittern, und ein Holztisch lag kaputt in der Mitte des Raumes . Die Couch lag umgeworfen an der Wand, genau wie der Schreibtisch. Es sah wie nach einem Kampf aus und Sherlock drehte sich besorgt mehrmals um.
Aber er war allein in der Wohnung. Keine Spur von denjenigen, die dieses Chaos verursacht hatten, und, was viel wichtiger war, keine Spur von John Watson.
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It's Always You - Teen!lock & Johnlock (German)
FanfictionJohnlock-Fanfiction (Teen!lock am Anfang) Sherlock und John treffen in der Schule aufeinander. Beide sind neu und irgendwie Außenseiter. Sie werden Freunde, doch aus ihrer Freundschaft wird innerhalb weniger Monate mehr. Aber wenn das Schuljahr ende...