Aufbruch

131 12 12
                                    

Oben sieht man Leahs Schwester Linny
1. Kapitel:

„Leah, beeil dich, es ist schon kurz nach halb acht. Wir müssen jetzt los, wenn du zu deiner Deutschschularbeit nicht zu spät kommen willst."

Die Stimme meiner Mum bahnte sich nur schwer einen Weg durch den Wust meiner wirren Gedanken, bis der Klang ihrer Stimme schließlich leise an meinen Schädelwänden widerhallte und damit meine letzten klaren Gedanken ins Wanken brachte.

Mich beschlich immer mehr das Gefühl, dass sich mein Gehirn ohne meiner Zustimmung verselbstständigte und mich mit meinen aufgewühlten Gedankenfetzten gnadenlos im Stich ließ, während es heute Nacht still und heimlich die letzten logischen Zusammenhänge meines bis jetzigen Lebens in Kisten verstaut hat und mit einem wankenden alten Kahn zu neuen Ufern aufgebrochen ist. Ohne mich mitzunehmen.

Mein Gehirn war also in Aufbruchsstimmung, während ich nun meiner zerbrechlichen menschlichen Körperhülle ausgeliefert war. Es hatte offensichtlich beschlossen einen neuen Horizont zu ergründen, um mit der ganzen problematischen familiären Situation klarzukommen und gleichzeitig den passenden Schlüssel zu finden.

Das sagte meine Großmutter immer, dass es zu jeder Herausforderung einen Schlüssel gäbe und dass man nur lang genug suchen müsse, um auch zu diesem Problem den Schlüssel zu finden. Gestern Abend, als ich keinen Schlaf fand und ich mich von einer Seite auf die Andere wälzte, habe ich mir überlegt wie wohl der Schlüssel zu unserer Herausforderung aussehen würde. Ich stellte ihn mir schlicht und einfach vor, einer der nicht durch seine Vollkommenheit und Pracht verführt, sondern reibungslos in Schloss gleitet und damit seinem eigentlichen Zweck gerecht wird. So stelle ich mir aufrichtige und bedingungslose Liebe vor, die ohne Reichtum und rauschende Feste bestand hält und für die man keine teuren und aufsehenerregende Liebesbeweise braucht, um zu wissen dass der der Andere für einen unverzichtbar ist.

„Was ist denn nun? Kommst du jetzt oder brauchst heute für alles eine Extraeinladung?", klang nun die Stimme meiner Mum erneut an mein Ohr und hätte damit beinahe den Kahn voll meiner Selbst zum Kentern gebracht.

Kraftlos schulterte ich mir meinen Rucksack auf und fuhr mir durch meine vom Duschen noch immer feuchten Haare. Als ich mich nur langsam die Stufen zum Eingangsbereich hinunterbewegte, machte meine Mum hektische Gesten mit ihren Händen, wobei sie immer wieder mit ihrem rechten Zeigefinger auf ihre Armbanduhr tippte. Ich brachte nur ein unverständliches „guten Morgen" heraus, bevor sie mir auch schon meine Schulbrote in die Hand drückte.

Meine kleine Schwester Linny saß schon im Auto und grinste mich frech an, während sie sich eine ihrer karamellfarbenen Locken um den Finger zwirbelte. Ich brachte nur ein halb so überzeugendes Grinsen auf meine Lippen und kramte dann mein Handy aus meiner Jackentasche, um mich die Autofahrt über von meiner Lieblingsmusik einlullen zu lassen.

Die Deutschschularbeit konnte ich in dem Zustand vergessen, was mir wirklich leid tat, da Deutsch zu einem meiner Lieblingsfächer zählte. Die gesamte Fahrt verbrachte ich in einem Paralleluniversum, in dem es nichts als Wolken und gutaussehende Typen, die auf rosafarbene Einhörner ritten, gab. Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn als ich jetzt meine Augen aufschlug, spürte ich eine kühle Hand auf meiner Stirn und den sorgenvollen Blick meiner Mum auf mir ruhen.

„Schatz, ist mit dir alles okay? Du fühlst dich ja ganz heiß an." „Nein, Mum alles bestens. Mach dir um mich keine Sorgen.", versuchte ich sie zu beschwichtigen und gab mir ehrlich Mühe dabei aufrichtig und munter zu klingen. Kurz legte sie die Stirn in Falten, wobei sie den Kopf zur Seite legte und in Gedanken abwiegend nickte.

„Gut, aber falls es dir schlechter gehen sollte, will ich, dass du mich umgehend anrufst.", beharrte sie dennoch. 

Erleichtert, dass sie mich gehen ließ, richtete ich mich auf und strich mir mein hellgraues T-Shirt glatt. Das letzte was ich jetzt wollte, war meiner Mum unnötig Sorgen zu machen. Den Streit mit meinem Dad hatte sie immer noch nicht verkraftet, was man an ihrer angespannten Haltung und dem gequälten Lächeln sah, dass sie jedes Mal aufsetzte, wenn man ihr in die Augen sah.

Die letzte Kammer seines Herzens#WATTBOOKS2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt