Vertröstet?

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Mum fuhr gerade in die Einfahrt des erst neu gebauten Rewe-Marktes, als Tristan gerade den Laden verließ. Er sah aus als wäre er gerade erst aufgestanden. Seine dunkelbrauen Haare fielen ihm locker in die Stirn und sein olivgrünes T-Shirt hätte verknitterter kaum sein können. Meine Augen wanderten wieder nach oben, wo sie an seinen perfekt geschwungenen Lippen hängen blieben. Wie es sich wohl anfühlen musste, sie zu küssen?

Nein. Stopp! So ging das nicht. Tristan war unser Feind. So einfach war das. Und Feinde sahen weder gut aus noch waren sie es wert auch nur eines Blickes gewürdigt zu werden.

Okay. Mantra gesprochen. Mantra begriffen. Ich senkte abrupt den Blick auf meine weißen Sneaker, um zu verhindern, dass sich auch noch unsere Blicke kreuzten. Unser Auto war nicht gerade unauffällig und er schien ja anscheinend eine Schwäche für Luxus zu haben.

Was wollte eigentlich so ein Typ von meinem Dad? Aber was noch viel wichtiger war, was hatte dieser Tristan zu bieten, dass sich mein Dad mit ihm abgab. Ich kramte mein Handy aus der Hosentasche hervor, beugte mich erneut ein kleines Stück nach vorne und machte ein Foto von Tristan, als er gerade die Einkaufstasche auf schulterte. Danach schrieb ich noch schnell eine Nachricht an Linny:

Hab gerade den Unglücklichen gesehen. Warte schick dir gleich ma das Foto.

So nannten wir ihn jetzt. Den Unglücklichen. Linny war der Meinung, dass das passen würde, weil jeder, der ihr oder ihrer Familie Schaden zufügte, am Ende ganz bestimmt nichts mehr zu lachen hätte.

Als ich die Nachricht zu Ende getippt hatte, war Tristan nicht mehr zu sehen. Erstaunt ließ ich den Blick über den Parkplatz streifen, aber von ihm war keine Spur mehr zu erkennen. Komisch.

Er muss doch bestimmt mit dem Auto gekommen sein oder war er zu Fuß unterwegs?

„Leah, Schatz, kommst du nun mit oder willst du im Auto warten?"

„Was? Nein, ich meine klar komme ich mit."

Ich ließ das Handy wieder in meiner Hosentasche verschwinden und folgte Mum, die auf die Einkaufswägen zusteuerte. Nachdem wir die Pfandflaschen abgegeben hatten, begaben wir uns zu der Gemüse-Theke. Ich überlegte gerade, ob sich die Süßwarenabteilung oder die Käsetheke besser für ein Gespräch mit Mum eignen würde, als mein Handy vibrierte.

Neugierig zog ich das Handy aus der Tasche. Bestimmt war die Nachricht von Linny, die mir ihr Entsetzen mitteilen wollte. Aber als ich auf das Display schaute, zeigte es mir eine unbekannte Nummer an. Als ich die Nachricht öffnete, traute ich meinen Augen kaum. Ich merkte wie meine Finger das Zittern begannen und mein Mund ganz trocken wurde. Was sollte das? War das etwa ein Spaß von diesem Tristan? Hatte er mich gerade erkannt? Aber woher hatte er meine Nummer? Von Dad?

Hey Schöne! Ich hab dich immer im Blick, vergiss das nie!

Schöne? Fassungslos schaute ich vom Display auf. Ich wollte das einfach nicht wahr haben. Ich war gerade dabei vollends im Strudel der Ausweglosigkeit zu versinken. Ich merkte wie ich immer mehr die Kontrolle verlor. Und das war das Schlimmste. Wenn ich eines im Leben brauchte, dass mir Sicherheit gab, dann war das Kontrolle. Kontrolle über mich selbst. Kontrolle über meine Familie. Kontrolle über Andere. Ich hasste es, wenn Andere die Oberhand gewannen und über mich bestimmten.

Aber eines schwor ich mir, so kam mir dieser Tristan nicht durch. So leicht ließ ich mich nicht verarschen. Ich war gerade im Begriff die Nachricht zu löschen, als mir einfiel, dass ich so möglicherweise Beweismaterial vernichtete.

Ob ich Linny davon erzählen sollte? Eigentlich hatten wir uns geschworen, uns immer alles zu erzählen, aber ich wollte Linny nicht noch mehr verrückt machen. Außerdem hatte sie doch die Nummer von ihm. Also würde ich erst mal in Linnys Handy nach der Nummer schauen und wenn sie übereinstimmten konnte ich sie immer noch in die ganze Sache einweihen.

Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, stand Mum nicht mehr an der Gemüse-Theke. Auch das noch. Ich rannte zuerst zu der Frische-Theke, wo sich eine lange Schlange gebildet hatte, dann zu der Milch-und Joghurt-Abteilung. Vergeblich. Als ich dann ganz außer Atem am Regal für die Süßigkeiten angelangt war, sah ich Mum gerade fünf Tafeln Nussschokolade einpacken.

„Mum? Was ist mit deinem Diät-Plan?", fragte ich sie überrascht.

„Ach, weißt du, manchmal muss man sich auch was gönnen können."

Da waren wir ja genau beim Thema. Also doch die Süßwarenabteilung. Hätte ich mir doch gleich denken können.

„Mum, was ist eigentlich los? Erst bist du leichenblass, dann musst du Samstag ins Büro und jetzt kaufst du fünf Tafeln Nussschokolade?".

Ich war gespannt, ob sie alles abstreiten oder sich auf ein Gespräch einlassen würde. Ihre Augen verdunkelten sich und sie nahm sofort wieder diesen traurigen Gesichtsausdruck an. Augenblicklich bekam ich ein schlechtes Gewissen. Warum quälte ich sie auch jetzt mit dieser Sache, wenn sie sich doch scheinbar wieder gefangen hatte.

Sie räusperte sich und fuhr sich durch ihre blonden Haarsträhnen, während sie mit ihren grau-blauen Augen abwesend die Tafel Nussschokolade, die sie noch in der Hand hielt, musterte.

„Dein Dad und ich...". Sie machte eine Pause. „Dein Dad und ich, wir sind in letzter Zeit einfach häufig aneinander geraten. Er hat einfach oft andere Vorstellungen...". Sie brach ab.

Ich sah wie ihre Augen anfingen nass zu schimmern. Sie wischte sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht. Dann wand sie sich wieder dem Regal zu und fragte, so als ob nichts gewesen sei, ob sie nicht auch noch die Erdbeersahneschokolade mitnehmen sollte. Ich konnte nur nicken.

Plötzlich tat es mit total leid, dass ich sie schon wieder so traurig gemacht hatte. Ich hätte doch auf Linny hören sollen, um uns erst mal selbst mit der Sache vertraut zu machen, bevor ich sie gleich so direkt damit konfrontierte.

Sie nahm die rosa Verpackung mit der großen Erdbeere und dem fast ebenso großen Milchglas daneben aus dem Fach und legte sie in den Einkaufswagen.

„So, ich hab jetzt Tomatendosen und Hackfleisch im Wagen. Fehlt nur noch der Käse, oder was meinst du Leah?".

„Ja, aber Mozzarella und Gouda." Ich versuchte ein Lächeln.

„Aber ganz bestimmt, mein Schatz."

Sie kam ein Schritt auf mich zu und nahm mich in den Arm. Ich legte meinen Kopf auf ihre rechte Schulter und so verharrten wir einige Sekunden. Als wir uns wieder lösten, hatten wir, glaube ich beide ein sanftes Lächeln auf den Lippen und ich vergaß sogar für einen kurzen Moment die mysteriöse Nachricht, die ich erst vor etwa zwanzig Minuten empfangen hatte. Kurz nachdem ich Tristan gesehen hatte.

Die letzte Kammer seines Herzens#WATTBOOKS2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt