Rosarote Brille

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„Leah, kann ich jetzt rein kommen? Wir haben nicht ewig Zeit und wir müssen den Plan vor Morgen noch einmal durchsprechen."

Ich seufzte, schrieb den letzten Satz für meinen Blogeintrag und klappte dann meinen Laptop zu.

„Ja, kannst jetzt kommen.", antwortete ich und im nächsten Moment stand Linny auch schon mit einem riesen Stapel Blocks und losen Papieren auf dem Arm in meinem Zimmer. Linny sah so goldig aus mit ihren in alle Richtungen abstehenden Locken und ihrer pinken Schlafanzughose, die schlaff an ihren dünnen Beinen herunterhing. Dazu trug sie einen weiten blauen Wollpullover von meinem Dad, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Linny liebte alle Kleidungsstücke, die ihr mehr als zwei Nummer zu groß waren und nicht ihr gehörten. Deshalb hatte sie mindestens die Hälfte aller Pullover und Jogginghosen meines Dads in ihrem Kleidungsschrank gebunkert. Von mir hatte sie auch ein paar Teile genommen, aber die meisten waren ihr einfach nicht groß genug.

Ich musste ein wenig schmunzeln, als sie so vor mir stand und versuchte so optimistisch wie nur möglich dreinzublicken. Schließlich schwang sie sich zu mir auf mein Bett und breitete dort sorgfältig alle beschriebenen Blätter aus.

„Also, was ist der genaue Plan?", fragte ich Linny, die schon voller Ungeduld auf meine Frage gewartet hatte. Sie reckte entschlossen ihr Kinn, fuhr sich durch ihr zerzaustes Haar und begann unsere Entwürfe zusammenzufassen.

„Was wir durch unseren ersten detektivischen Streifzug erfahren haben, ist klar und erwartungsgemäß nicht zu leugnen." Sie machte eine kurze Kunstpause, bevor sie fortfuhr.

„Was bedeutet, dass wir den Tatsachen ins Auge schauen müssen. Unser Dad ist trotz der Warnung der Ärzte erneut abhängig von Nikotin. Der Auslöser für diesen plötzlichen Suchtanfall ist uns nur allzu gut bekannt. Tristan. Kein anderer als dieser Blender Tristan, sein vermeintlicher Freund. Was und also durch unsere Spionage bewusst geworden ist, sind zwei Dinge: Unser Dad ist Tristan willenlos ausgeliefert, weil seine rosarote Brille der Gutmütigkeit, die er nicht bereit ist abzusetzen, Tristans wahre Absichten vor ihm verbirgt. Da wir uns nicht so leicht blenden lassen, wissen wir, dass Tristan einen Hinterhalt plant und dabei nur ein Ziel verfolgt: Er will an unser Geld. Die zweite nicht zu leugnende Tatsache ist, dass wir Tristan unter keinen Umständen im Hinblick auf Freitagnachmittag von der Liste der Verdächtigen streichen dürfen. Das unnahbare Verhalten von Mum und die seit Freitag stark zugenommene Abwesenheit unseres Dads, lässt uns leicht auf den Schuldigen schließen. Tristan. Was wir natürlich nicht sicher behaupten können, ist, ob das mehrmalige mysteriöse Klingeln ebenfalls auf Tristans Konto geht."

Hier musste ich nachhaken, obwohl ich Linny ungern in ihrem Redefluss unterbrechen wollte.

„Was ist mit der Überwachungskamera? Hast du schon nachgeschaut, ob um die Uhrzeit jemand vor unserem Eingangstor stand?"

Linny winkte nur ab und erklärte dann: "Das Problem ist, dass die Kamera schon seit zwei Monaten keine Videos mehr aufzeichnet, weil sie seit dem Zeitpunkt deaktiviert wurde."

Ich runzelte die Stirn.

„Mum oder Dad würden doch nie die Überwachungskamera deaktivieren. Was hätten sie für einen Grund?"

„Genau das ist der Punkt.", stieß Linny hervor. "Irgendjemand muss sich zu unserem Haus Zutritt verschafft haben und diese verdammte Kamera ausgeschalten haben. Ich will jetzt zwar unter fehlendem Beweismaterial keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber es liegt doch auf der Hand, dass Tristan ein Motiv hätte. Wir sollten Dad auf jeden Fall fragen, ob er Tristan schon einmal in unser Haus gebeten oder sogar einen Schlüssel für ihn hinterlegt hat."

„Ja, das wäre fürs Erste eine gute Maßnahme. Außerdem sollten wir uns nicht länger scheuen, Mum auf ihren Stimmungswandel in Bezug auf Freitagnachmittag anzusprechen.", gab ich zu bedenken.

Linny hingegen schien die direkte Konfrontation mit Mum abzulehnen, denn sie schüttelte energisch ihren Lockenkopf und kramte eines der losen Papiere hervor. „Was hatten wir zu diesem Thema besprochen?"

Ich dachte es wäre eine rhetorische Frage gewesen, aber Linny schien auf eine Antwort von mir zu warten, denn sie sah mich jetzt mit einem Schimmer der Erwartung in den Augen an.

„Ich weiß, dass wir nicht gleich zu Beginn unserer Untersuchungen Leute befragen sollen, weil sie dann vielleicht Verdacht schöpfen könnten, dass wir einer Sache nachgehen.", zitierte ich resigniert aus Linnys selbstverfasster Anleitung für Detektive.

„Aber ich bin mir sicher, dass das hier jetzt völlig überflüssig ist, weil wir uns doch schlichtweg nur Sorgen um Mum machen, wenn wir sie nach dem Grund ihrer schlechten Verfassung fragen."

„Möglicherweise könntest du Recht haben.", lenkte Linny ein und nickte dabei nachdenklich.

„Gut, kommen wir nun zu unserem Plan.", besann sich Linny auf den eigentlichen Grund unserer Zusammenkunft.

„Wichtig ist, dass Dad anfängt den wahren Braten zu riechen und den ihm aufgetischten angeschimmelten namens Tristan so schnell wie möglich abserviert. Um das zu erreichen, müssen wir Dad davon überzeugen, dass Tristan ein Arsch ist. Die Frage ist, wie wir das am besten bewerkstelligen können. Fakt ist, dass das alleinige Darlegen von Fakten, die wir über Tristan gesammelt haben unseren Dad keineswegs überzeugen. Das wurde uns nur allzu häufig bewusst. Jetzt heißt es andere Methoden ergreifen, auch wenn sie nicht immer ethisch korrekt sind." Bei ihrem letzten Satz warf mir Linny einen warnenden Blick zu.

„Jaja, ich weiß schon Bescheid.", gab ich entschuldigend zurück. Linny sah mich erst prüfend von der Seite aus an, bevor sie fortfuhr. „Gut, dann wäre das ja geklärt. Meine erste Überlegung dazu gilt uns. Bei was wir uns hoffentlich noch sicher sein können, ist die Tatsache, dass wir für Dad wichtiger sind als Tristan, was bedeutet, dass wir ein wenig inszenieren müssen."

„Inszenieren?", stieß ich hysterisch hervor. Langsam wurde ich unruhig. Was hatte Linny verdammt nochmal vor und wo endete dieses ganze Vorhaben?

***
Wann hattet ihr des letzte mal eine rosarote Brille auf?💕

Die letzte Kammer seines Herzens#WATTBOOKS2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt