Kade Irons wusste, dass er unkonzentriert war und das alle anderen es mitbekamen. Natürlich war es ihm selber bewusster als den anderen, denn immerhin bekamen sie nur die äußerlichen Symptome mit, aber er wusste, dass er es so schlecht versteckte, dass es ihm fast schon peinlich war. Er konnte nicht stillstehen, konnte aber auch nicht einfach sitzen, seine Hände waren ständig in Bewegung und seine Gedanken streiften umher.
Es war eine Woche vergangen, seit er Lycia Robertson geküsst hatte, seit der Sexszene am Set und seitdem hatten beide nur das Minimalste miteinander gesprochen. Was einerseits den Grund hatte, weil sie vor ihm nach New York aufgebrochen war, aber andererseits auch, weil sie von sich aus immer abblockte. Ja, sie führten noch Konversationen, aber waren die auf das Mindeste beschränkt. Und er wusste, dass der Fehler von ihm ausging, aber bei ihr lag. Und er wusste, dass er nichts anders machen würde, wenn er noch einmal in die Situation geworfen werden würde. Genauso wenig wie sie. Und das war ok.
Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen vor ihm. Sie hatten einige Straßen von New York abgeriegelt, um eine mit Wunden und Blut überhäufte Lycia, oder eher Sylvia, durch die Straßen torkeln zu lassen, da diese ihrem Entführer entkommen war. Er hatte in dieser Szene keinerlei Funktion und würde die auch bald noch nicht haben, aber Richard wollte ihn hier haben, falls es zu Planänderungen kommen sollte.
„Ist alles gut bei Ihnen? Brauchen Sie etwas zu trinken, Mr.Irons?", fragte Lycias Assistentin, deren Namen er vergessen hatte, aber die er anhand ihrer bunten Haare sofort wieder erkannte.
Er lächelte sie nur an und schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, danke." Und damit richtete er seinen Fokus wieder auf Lycia und wie diese ihre Rolle spielte. Nämlich verdammt gut. Sein Lächeln wurde breiter. Ryan Mason hatte die perfekte, talentierteste weibliche Schauspielern gefunden. Was er wohl dazu sagen würde, wie sein Stück umgesetzt wurde? Würde er stolz sein?
Immer wenn er an den Namen Ryan Mason dachte, dann versuchte er sich sofort ein Bild zu machen. Wie alt mochte er sein? Ende sechzig? Anfang zwanzig? War es ein skandalöses Alter oder warum zeigte er sich nicht? Der Teil von ihm, der sich in seiner Studiumszeit, dank Mavie, mit solchen Fragen beschäftigt hatte, wollte diesen Mann in seinem Kopf bauen, wollte ihm Charakter geben, doch er stoppte sich, als ihm bewusst wurde, was er da tat. Es war ein Spiel gewesen, das Mavie und er oft gespielt hatten. Wenn sie in ihrer Wohnung gewesen waren und unten auf den Straßen fremde Menschen herum geeilt waren, dann hatten sie ihnen Namen, Familien, eine Vergangenheit und eine Zukunft gegeben.
Verdammt, Mavie. Er sah ihr Lächeln vor sich, wie sie sich hinter den Seiten von Büchern versteckte, in ihrer eigenen Welt lebte. Wie sie sich aufregen konnte, wenn etwas in ihren Büchern nicht so war, wie sie es gerne hätte. Wie ihre weichen Hände seine Wangen berührt hatten. Er konnte sie fast spüren.
Wieder fokussierte sich sein Blick und er sah, dass sie die Szene gerade noch einmal von vorne drehten und zoomte wieder aus, seine Gedanken ganz woanders. Mit einem Mal vibrierte sein Telefon und er las die Nachricht seiner Managerin, die über ein aufkommendes Event sprach, bei dem er anwesend sein sollte.
Dann fiel sein Blick auf die Uhrzeit.
Dann auf das Datum.
Und er erstarrte.
Für ihn erklärte das alles: Warum er in letzter Zeit wieder so oft an Mavie gedacht hatte, für ihn erklärte das, warum sie in seinem Kopf herumspukte, wie nur einmal im Jahr. Es war ein relativ warmer Winter und kein Schnee lag auf den Straßen von New York, weshalb er es vergessen hatte, genauso war die Tatsache Schuld, dass es bereits zum mittlerweile siebten Mal so weit war und seine Gedanken einfach so besetzt von allem waren. Gestern vor sieben Jahren hatten Mavie und er einen Unfall gehabt. Heute vor sieben Jahren war sie gestorben.
Kade atmete tief durch, als ihn der Gedanke wie ein heißer Blitz in seiner Brust traf. Er glaubte beinahe den unsagbaren Schmerz in seiner Brust, in seiner Schulter wieder zu spüren, spürte wieder und wieder wie langsam die Kälte in den Wagen eindrang. Und die Stunden danach, als er im Krankenhaus aufwachte. Und er die Nachricht bekam.
Und ohne weiters darüber nachzudenken, drehte er sich um und ging. Er sah sich ein letztes Mal um und wusste, dass seine Abwesenheit zwar auffallen würde, sie ihn aber nicht brauchten. Nicht im Moment.
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„Hallo Schatz," begrüßte Kade seine Verlobte und legte ihre Lieblingsblumen auf den Grabstein. Der rote Mohn hob sich von den anderen Blumen ab, die auf den Grabstein gelegt wurden und er wusste, dass die Nelken und Rosen von Mavies Verwandten und Freunden kamen. Sie hatten ihm nie die Schuld an ihrem Tod gegeben, aber dennoch war der Kontaktabbruch von beiden Seiten geschehen. Was verband sie denn jetzt auch noch, wenn nicht unsagbarer Verlust? Früher eine Quelle des Lebens, der Freude, eine junge Frau. Und jetzt? Schmerz.
Er sah sich um und schnürte den grauen Mantel, den er trug, enger. Es war zwar ein warmer Winter, aber dennoch frisch und der Wind trieb ihm die Tränen in die Augen. Kade wusste nicht, was er sonst sagen sollte, lange und oft genug war er hier gewesen und hatte nur geweint, hatte getrauert und sich über die Unfairness der Welt aufgeregt, darüber, dass sie ihm seinen Schatz gestohlen hatten. Er hatte keine Worte mehr übrig, und keine Tränen. Aber dennoch war da ein Teil in ihm, der sie noch immer liebte und er wusste, dass er sie auch für immer weiter lieben würde. Ein Teil von ihm war mit ihr damals in der eisigen Nacht gestorben. Ein Teil von ihm würde nie mehr lebendig werden.
„Der Film, an dem ich jetzt arbeite, würde dir gefallen," sagte er nur und spürte im selben Moment, wie ihm einer einzelnen Träne über die Wange lief, aber es folgten keine mehr, obwohl er so um sie weinen wollte. „Ich wünschte du wärst hier und würdest es sehen können."
Er räusperte sich und dann dachte er an das Gespräch mit Lycia zurück.
Wo glaubst du, wärst du jetzt genau, wenn du nicht hier wärst, wenn das nicht dein Leben wäre, wenn alles anders gekommen wäre?
„Ich arbeite mit einer sehr talentierten Schauspielerin zusammen. Und..."
Wo glaubst du, wärst du jetzt genau, wenn du nicht hier wärst, wenn das nicht dein Leben wäre, wenn alles anders gekommen wäre?
„Ich habe ihr die Frage gestellt, wo sie glaubt, dass sie jetzt sein würde, wenn nicht genau hier? Weil dann wär es nicht ihr Leben, sondern irgendein anderes. Es wäre nicht ihr Leben, wenn sie nicht all diesen Schmerz, all die Verzweiflung, die Trauer, aber auch die schönen, bunten Momente durchgemacht hätte. Und weißt du, ich habe das gesagt. Und ich weiß, ein Teil von mir weiß, dass es war ist. Aber ich glaube sie dennoch nicht. Ich würde so viel dafür geben, wenn du hier sein könntest. Hier bei mir. Ich würde so viel geben, wenn das hier nicht mein Leben wäre."
Er atmete tief durch, als er in seiner Manteltasche sein Telefon vibrieren spürte und ein Blick auf den Bildschirm verriet ihm, dass ihn Lycia versuchte zu erreichen.
Sein Blick flog zurück zu Mavies Grab.
Hier ruht Mavie Rhin, geliebte Tochter, Enkeltochter und Freundin.
„Ja," begann er das Gespräch ohne seinen Blick von dem Grab abzuwenden.
„Wo bist du?", fragte sie ebenfalls ohne eine Begrüßung.
„Ich...," begann er, doch vollendete seinen Satz nicht, sah sich um, beobachtete für einen Moment die kahlen Bäume, deren Äste im Wind schwankten und das tote Laub, das durch eine Windböe in die Höhe gewirbelt wurde. „Ich bin am Friedhof," sagte er schlicht und wartete auf eine Antwort.
Für einen Moment sagte Lycia nichts, er hörte kein Wort. „Oh," sagte sie dann und er sah beinahe wie sie ihre Augenbrauen zusammenzog, sah es beinahe so deutlich vor sich, dass er lächeln musste. „Ist es ok, wenn ich zu dir komme?", fragte sie vorsichtig und er hörte das Zögern in ihrer Stimme.
„Ja," antwortete er. Und er wusste nicht wieso. Er wusste nicht, warum er sie in diesen Teil seines Lebens ließ. Er wusste nur, dass es sich jetzt im Moment richtig anfühlte.
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This Is Acting
General FictionWie schlimm kann ein Filmdreh werden, bei dem dein Ex-Freund und Kade Irons, der begehrteste Schauspieler Hollywoods mitmachen? Schlimmer als Lycia Robertson sich jemals vorgestellt hatte, das auf alle Fälle. Denn neben den peinliche...