Es ist so neu, so unglaublich neu. Dieses kleine Pieksen, ich möchte es als Schmerz deuten. Aber das ist es womöglich nicht. Wahrscheinlich ist es die Decke, die über meine nackten Beine streicht, eine sanfte Berührung. So viel Reiz auf einmal, das alles ist so unfassbar neu. Fünf Jahre Abwesenheit meiner Kontrolle machen sich nunmal bemerkbar, ob man das möchte oder nicht.
Die Decke stört mich. Sie stört mich unheimlich. Ich möchte sie am liebsten beiseite treten. Ich möchte, dass sie verschwindet und mich nicht erdrückt. Diese scheiß Drecksdecke. Hätte ich doch nur schon die Kraft meine Augen zu öffnen. Könnte ich, würde ich irgendjemanden bitten dieses Ding von mir zu nehmen. Ist ja nicht zum Aushalten. Nicht, dass ich vorher nichts gespürt habe. Es ist nur so, dass ich jetzt endlich wissen möchte, ob es funktioniert hat. Ob ich geglückt bin. Ob ich endlich mal fröhlich sein darf. Aber meine Muskeln schlafen noch. Schlafen sie so wie vorher? So für immer? Ich möchte es endlich wissen. Ich möchte endlich wieder über mich selbst mächtig sein. Und dafür muss ich verdammt nochmal zu mir kommen. Also richtig, nicht so ein Trance-Dösen-Ding.
Wenn die Decke weg ist, werde ich laufen. Ich werde richtig laufen.
Es muss einfach funktioniert haben und das hier muss einfach die Nachwirkung der Narkose sein. Ich hab Kimi doch gehört, sie hat zu mir gesprochen. Warum höre ich sie jetzt nicht mehr? Trinkt sie vielleicht gerade einen Kakao in der Cafeteria? Und was ist, wenn sie alt ist, wenn ich seit Jahren im Wachkoma liege? Wenn sie mich vergessen hat. Wenn sie in irgendeinem überhitzten Club tanzt, ihren Körper an fremden und testosterongesteuerten und literweise Bier kippt?
Und was ist, wenn Bier nur der Anfang ist?
Ich möchte, dass alles geklappt hat, das alles gut geworden ist. Ich möchte, dass Kimi vierzehn Jahre alt ist. Ich möchte, dass sie ein Poster von Justin Bieber an ihrer Wand hängen hat und ich möchte, dass die Narben an ihren Unterarmen noch jung sind und nicht schon alt und verblasst. Sie soll bitte noch jung sein.
Wie ich wohl aussehe, alt und grau? Meine Ohrläppchen hängen bestimmt auf den Schultern. Ganz wabbelig und faltig.
Wenn alles gut ist, dann möchte ich das jetzt wissen.
Deine Schwester schlitzt sich selbst die Arme auf, deine Mutter betrügt deinen dauerabwesenden Vater, sonst noch was Romy? Und du denkst, alles sei gut?
Es kann ja besser werden. Bestimmt kann es das.
Wenn ich richtig wach bin, möchte ich über eine Wiese laufen. Mit nackten Füßen. Ich möchte schwimmen gehen ohne, dass mich jemand dabei hält und mich vor dem Absaufen schützt. Ich möchte von einem Hochhaus springen. Ich möchte fliegen. Ich möchte es allen zeigen. Ich möchte in feuchten Sand greifen. Früher sind wir immer an die Ostsee gefahren. Kimi, Mama , Papa und ich. Wir haben gelebt.
Ich möchte essen. Richtig meine ich. Mit Messer und Gabel und ich möchte ein Glas mit Jim Beam hochheben können und in einem Zug leer trinken, während ich in mein Zimmer laufe und ein Lied singe.
Ich möchte so viel, jetzt wach endlich auf.
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Diagnose: Hoffnungslos?
RandomRomy war Hoffnung. Bis sie die Vierhundert gelaufen ist, war Romy Hoffnung. Doch was tut man, wenn einem jegliche Kontrolle abhanden kommt und man selbst gegen den Zweifel an der Lebendigkeit ankämpfen muss?