Draußen ist bereits die Dunkelheit eingebrochen und die Laternen im Innenhof des Krankenhausgeländes werfen tiefe Schatten auf die Grünflächen und die Bäume. Sie sehen aus wie Gespenster, kleine Freunde der Nacht. Ich weiß gar nicht, welche Jahreszeit gerade ist. Wann war ich das letzte mal im Freien? Ich vermisse es, Sonnenstrahlen mit meinen Fingerspitzen einzusammeln. Morgen werde ich Kimi fragen, ob sie mit mir in den Krankenhauspark möchte und wir zusammen Sterne in fangen möchten. Wir werden sie in unsere Rucksäcke stopfen, bis sie platzen. Die Taschen meine ich. Dann wird es goldenes Licht regnen. Aber Kimi hat Schule, wie lange dauert so was eigentlich? Wie lange ist man für gewöhnlich in der Schule? Das muss sie mir morgen erklären. Wir haben so viel zu erzählen, wenn ich erstmal wieder sprechen gelernt habe. Mama war heute bis spät abends bei mir und daher haben uns die Ärzte in Ruhe gelassen. Morgen, haben sie gesagt, morgen. Dann werden wir reden. Sie werden reden. Und ich, ich werde lernen. Lernen zu leben.
Vorhin, bevor sie gegangen ist hat Mama die Jalousien geöffnet, damit ich rausschauen kann. Ich konnte ihr das noch nicht sagen, aber immerhin hat es gestikulativ halbwegs geklappt. Dabei ist mir etwas Seltsames aufgefallen, ich meine da, als ich den Arm angehoben habe und ungefähr Richtung Fenster gewiesen habe. Ich bin dünn. Das ist mir aufgefallen, ich bin viel zu dünn. So etwas wie Muskeln scheine ich nur noch in mickrigen Ansätzen zu besitzen. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich lange Beine und ein breites Kreuz hatte. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich mit Leichtathletik in der besten Form war. Als ich zwölf Jahre alt war, war ich Hoffnung. Meine liebste Disziplin war Laufen. Vierhundert. Und ich glaube ich würde es heute immer noch mögen, egal was geschehen ist. Ich würde es wieder tun.
Die Uhr draußen am Eingang zeigt, dass es es vier Uhr fünfunddreißig ist. Vier und fünfunddreißig ergeben neununddreißig. Die Quersumme von neununddreißig ist zwölf. Zwölf. So alt war ich, als ich gestorben bin. Gott ist das krank, ich sollte aufhören über so etwas nachzudenken. Zu viel Mathe kann nicht gesund sein. Nicht mal so ein bisschen Mathe. Kimi hasst Mathe, das hat sie mir immer erzählt, wenn sie bei mir war. Ich erinnere mich, dass ich Französisch gehasst habe. Ich erinnere mich an den Vokabeltest, den ich an dem Tag, an dem sich alles änderte geschrieben hätte. Ich hätte so gerne eine verdammte sechs geschrieben.
„Guten Morgen Romy. Es ist sieben Uhr, die Sonne scheint und ich habe dir dein Frühstück mitgebracht. Deine Mutter meinte, du magst Haferflocken, deswegen habe ich dir welche bestellt.“
Gott, kommen da viele Worte auf einmal. Ich öffne blinzelnd die Augen und möchte sie eigentlich mit den Händen bedecken, doch ich knall mir dabei nur selber kraftlos eine. Im Ernst, ich weiß, dass der Tag hier früh beginnt, aber ich habe jetzt gerade mal zweieinhalb Stunden geschlafen. Die Krankenschwester stellt ein Tablett mit Kaffee und einer Schüssel ab, geht dann zu meinem Fenster und öffnet es weit.
„Noch ist es relativ kühl draußen, aber laut Wetterbericht knacken wir heute die dreißig-Grad-Marke.“
Sie stemmt beide Fäuste in die Hüfte, sie ist sehr schlank und klein. Ihr Haar ist kurz und blond und mit einem dünnen Zopfgummi ist ein vielleicht zwei Zentimeter langer Zopf befestigt. Das blaue große Oberteil und die weite Hose machen sie noch zierlicher und die Crocks an ihren Füßen quietschen ein klein wenig beim Laufen.
„Magst du den Sommer, Romy?“
Sie dreht sich um und strahlt mich an und ich verliebe mich in sie. Ihre Augen sind unglaublich blau und die Zähne weißer als eine Schneeflocke. Auf ihrem linken Eckzahn glitzert ein kleiner Diamant, natürlich kein echter, aber das ist egal. Sie ist schön. Langsam legt sie den Kopf schief und etwas Ermutigendes liegt in ihrem Blick.
„Ja“, bekomme ich nur heraus. Das hört sich so unhöflich an, ich will gar nicht unhöflich sein, ich mag sie doch. Daher versuche ich zu lächeln und sie zieht sich einen Stuhl ran.
„Du strahlst ja wie die Sonne, Romy.“
Mission geglückt.
„Darf ich dir helfen?“
Sie ist die Erste, die mich das fragt. Vorsichtig und ziemlich abgehackt nicke ich. Sie hat da ein Namensschild an der Brust klemmen, aber ihr Oberteil wirft Falten und dadurch ist es ein bisschen verdeckt. Ich hebe die Hand und mache das wohl dümmste, was ich je getan habe. Der Plan war ja, das Plastikschild anzufassen und ein wenig zu drehen, doch ich treffe mit etwas zu viel Wucht gleich ihren gesamten Busen. Erschrocken reiße ich die Augen auf und erwarte ein Donnergewitter. Jap, soeben habe ich es mir mit der schönen Krankenschwester verscherzt. Mit dem anderen Arm löse ich meine Hand und beide fallen ziemlich unelegant in die Schüssel Haferflocken. Die Milch spritzt, meine Hand sieht aus, als hätte ich mit ihr Vogelkacke gesammelt und die Krankenschwester, die lacht. Ihr Hals hat Milch abbekommen, ich fühle mich wie ein angesabberter Eisbär und sie lacht.
„Ich mach dich schnell sauber“, lacht sie weiter und steht auf. Sie wischt alles weg, stellt das Tablett auf den Nachttisch und schlägt dann die Decke beiseite.
„Ich hebe dich jetzt in einen Rollstuhl, das Bett muss neu bezogen werden“, kündigt sie an und legt einen Arm in meine Kniekehlen und den anderen an meinen Rücken. Sie ist stark, habe ich nicht erwartet. Neben meinem Bett steht kein Rollstuhl, sieht sie das nicht? Sie setzt mich auf ihren Stuhl, den normalen. Das kann ich doch nicht. Ich werde runter fallen. Ich werde mich nicht halten können. Ich habe doch gar keine Körperspannung. Doch sie lässt keine Gnade walten und setzt mich hin. Ich wackel mit den Armen sinnlos in der Luft und sie hockt sich nieder. Ich sehe von meinen Händen zu ihr und wieder zurück. Plötzlich ergreift sie meine Finger und zwingt mich ihr in die Augen zu sehen.
„Du kannst das“, ist das einzige, was sie sagt und legt meine Hände auf die Armlehne. Fast als wäre es ein Mechanismus greife ich danach und klammere mich fest. Das ist schmerzhaft, aber effektiv. Sie lächelt leicht.
„Siehst du, brauchst doch gar keinen Rollstuhl.“
Mit einem Lachen steht sie auf und widmet sich meinem Bett, dass sie erst abzieht und dann die schmutzigen Bezüge aus dem Zimmer trägt. Mein Bauch schmerzt, alles schmerzt. Ich hab Angst loszulassen. Nicht, dass das der Plan ist, aber vielleicht kann ich mich auf meine Muskeln ja nicht verlassen. Muskeln, lustig. Die Schwester lässt sich Zeit, na danke. Als nach einer halben Ewigkeit die Tür wieder aufschwingt und ich den Luftzug im Nacken spüre fällt mir auf, dass ich nur so ein dünnes Krankenhaushemdchen und hoffentlich Unterwäsche trage. Theoretisch könnte ich das ja überprüfen, aber dann müsste ich ja eine Hand lösen und das traue ich mich nicht. Also beobachte ich sie, wie sie alles wieder frisch und sauber macht. Sie wendet mir dabei den Rücken zu und ich kann nicht anders als ihr verstohlen auf den Po zu schauen. Sie hat eine schöne Figur. Sehr schön. Dabei vergesse ich anscheinend die Zeit, denn irgendwann dreht sie sich wieder um und fängt meinen Blick ein.
„Das hast du großartig gemacht, Romy. Ich bin stolz auf dich“, lobt sie und hebt mich wieder in mein Bett.
„Ich hole dir schnell ein neues Frühstück. Kaffee trinkst du doch, oder? Bist ja schon fast erwachsen.“ Ich liebe diese Frau. Mein Blick klebt an ihr, als sie zur Tür quietscht und ich freue mich, als sie sich nochmal umdreht und mich anlächelt.
„Lea, das wolltest du doch wissen, oder? Mein Name ist Lea.“
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Diagnose: Hoffnungslos?
RandomRomy war Hoffnung. Bis sie die Vierhundert gelaufen ist, war Romy Hoffnung. Doch was tut man, wenn einem jegliche Kontrolle abhanden kommt und man selbst gegen den Zweifel an der Lebendigkeit ankämpfen muss?