„Ich hab dir Schokolade mit gebracht. Isst du doch bestimmt gerne, oder? Jeder mag Schokolade. Und du brauchst ein bisschen was auf den Rippen, Schatz. Wie war dein Tag heute? Was hast du gemacht? Wie war die Therapie?“ Da sprudelt so viel aus ihr raus, wie soll ich das denn alles beantworten? Vielleicht will sie ja auch gar nicht, dass ich antworte. Das ist Strategie, Mama ist gut. Sie holt die Tafel Milka aus ihrer Tasche und legt sie mir in den Schoß. Lustig, wie soll ich das denn aufmachen? Aber ich habe jetzt echt wenig Lust ihr das auch noch zu sagen. Die Therapie vorhin war anstrengend genug. Ob man es glaubt oder nicht, das ist Arbeit. Verdammt viel Arbeit. Und jetzt, jetzt schweigen wir uns an. Na super. Da ist sie schon extra ganz spät gekommen, damit sie nicht so lange bleiben muss und jetzt kriegt sie es nicht mal hin irgendwas zu machen. Vielleicht haben wir uns auseinander gelebt, vielleicht. Vielleicht haben wir aber auch nie gelebt. Wir sagen bestimmt eine viertel Stunde lang gar nichts. Für mich ist das okay, für sie bestimmt anstrengend und doch freuen wir uns beide, als es klopft und Lea rein kommt. Sie lächelt sogar etwas schüchtern, das kenne ich gar nicht von ihr.
„Ich habe Romy' s Abendessen“, klärt sie uns auf. Damit will sie sagen, dass die Besuchszeit vorbei ist. Aber Lea ist taktvoll. Lea, die Hüftstemmerin.
„Ah okay“, kommt es nur von Mama, doch sie rührt sich nicht. Lea verwirrt das glaube ich, sie sagt nichts weiter und stellt das Tablett auf meinem Nachttisch ab. Sie zieht sich einen Stuhl an meine andere Seite und wenn die beiden jetzt auf meinem Schoß und der unangerührten Schokolade Armdrücken würden, würde mich das nicht mal wundern. Mama zwingt sich zu lächeln und ihre Hände stoßen mit Lea' s zusammen, als beide meinen Teller ergreifen wollen.
„Ich mach das schon“, sagt Lea bemüht freundlich.
„Ein, zwei Mal habe ich das auch schon hinbekommen“, antwortet meine Mutter, verschränkt aber die Arme unter der Brust. Sie sieht schrecklich hässlich aus, wenn sie so arrogant ist. Die Lippen werden zu einem schmalen Schlitz und sie beobachtet Lea. Dass ich sie anstarre, fällt ihr nicht mal auf. Als Lea mir die Gabel in die Hand drückt, ist sie regelrecht schockiert, sagt aber nichts.
„Romy kann das. Sie übt sehr fleißig“, versucht Lea freundlich zu sein und Ermutigung liegt in ihrer Stimme. Mama hält es bis zum ersten Bissen aus. Dann schaut sie theatralisch auf ihre Uhr und ihr fällt ein, dass Kimi ja schon längst von der Schule zu Hause sein müsste. Sie erzählt mir Lügengeschichten, von wegen Unterricht bis halb drei. Oder weiß sie einfach nicht, dass ihre Tochter heute schon hier war? Interessiert sie denn gar nichts mehr? Kühl küsst sie mich auf die Wange und dann geht sie und endlich sind Lea und ich wieder alleine.
„Bist du mir böse, wenn ich sie nicht mag?“
Ich muss anfangen zu lachen und insgeheim möchte ich antworten „Nö, ich tue es auch nicht“.
Mitten in der Nacht wache ich durch ein schmerzhaftes Pochen am Kopf auf. Ich kann den Ausgangspunkt nicht orten, einfach alles scheint zu brennen. Wo ist der verdammte SOS-Knopf? Am Bett, er muss irgendwo am Bett sein. Ich sehe mich um und verfluche mich dafür, den Hals drehen zu müssen. Das Stechen wird stärker dadurch. Aber ich sehe endlich das rote Ding und hebe die Hand. Selbst mit mehr oder weniger gezielten Ausholen treffe ich nicht. So ein Mist, verdammte Axt. Um Hilfe rufen kann ich auch nicht. Schreien? Einfach laut schreien? Scheint die nächstliegende Lösung. Und hey, ich kann verdammt laut kreischen. Aber meine Hoffnung wird ziemlich schnell zerstört, als nicht Lea, sondern eine andere Schwester kommt. Sie ist außer Atem und denkt bestimmt, dass ich gerade am Abkratzen oder sowas bin. Umso erleichterter atmet sie aus, als ich sie lebend anlächele.
„Was ist los, Romy?“, fragt sie.
„K...K...K...Koooooooopf...sch...sch...sch...“ Sie versteht mich ziemlich schnell und sagt, dass das Narbenschmerzen sind und die früher oder später immer auftreten. Sie gibt mir ein Schmerzmittel und ich bedanke mich. Schade, Lea wäre mir trotzdem lieber gewesen.
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Diagnose: Hoffnungslos?
RandomRomy war Hoffnung. Bis sie die Vierhundert gelaufen ist, war Romy Hoffnung. Doch was tut man, wenn einem jegliche Kontrolle abhanden kommt und man selbst gegen den Zweifel an der Lebendigkeit ankämpfen muss?