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Tatsächlich, ich habe tatsächlich perfekt geschlafen. Keine stundenlangen Wachperioden in der Nacht, keine Rastlosigkeit, kein gar nichts. Einfach nur Schlaf. Das ist verdammt erholsam. Zum Frühstück kommt Lea wieder und heute hat sie ihre kurzen Haare völlig offen. Das steht ihr, sie strahlt.

„Ich hab dir heute so eine Art Haferbrei mitgebracht. Der schmeckt eigentlich ganz gut, auch wenn ich nicht so genau weiß, was da drin ist“, begrüßt sie mich und hilft mir beim Essen. Es schmeckt wirklich, sie hat Recht.

„Nach der Visite habe ich eine Überraschung für dich“, lächelt sie beim Abräumen. Das möchte sie allen Ernstes so im Raum stehen lassen, aber ich kriege es hin, sie am Oberteile festzuhalten. Den vorwurfsvollen Blick habe ich echt drauf. Sie schüttelt nur bestimmt den Kopf und verschränkt die Arme vor der zugegeben großen Brust.

„Vergiss es, das sage ich dir noch nicht.“

Sie will meinen Griff lösen, aber das lasse ich nicht zu.

„Romy, tu mir das nicht an“, jammert sie jetzt und legt den Kopf in den Nacken. Ihr Kehlkopf wird dadurch seltsam betont und im hohen Ausschnitt blitzen ihre Schlüsselbeine hervor.

„Nein“, knurre ich schon nahezu. Das darf sie mir nicht böse nehmen, ich mag sie doch.

„Na gut, du hast gewonnen“, nölt sie herum und sieht mich jetzt an. Ich lasse sie los und sie ergreift mein Tablett.

„Kimi hat vorhin angerufen. Sie hat gefragt, ob du vormittags Therapie hast und ob sie vorbei kommen kann.“ Das heißt, wir werden Sterne sammeln gehen.

„Ich habe gehört, dass dich heute Vormittag deine Schwester besuchen kommt, Romy. Weißt du denn schon, wie lange sie bleibt? Heute Nachmittag hast du wieder eine Stunde bei Frau Dr. Haase“, sprudelt es aus meiner Ärztin heraus. Ernsthaft, auf was genau soll ich jetzt antworten? Ich mache es einfach wie diese Touristen in der Stadt, wenn sie einen nicht verstehen und nur freundlich grinsend „Ja, ja, ja“ nahezu schreien. Zumindest haben sie das früher gemacht, als ich das noch einschätzen konnte. Das muss ich später untersuchen. Vielleicht hat sich das ja wirklich geändert, kann ja sein.

„Wir holen dich dann einfach rein, wenn es los geht“, lacht meine Ärztin. Ich habe ganz vergessen ihr ordentlich zu antworten. Okay, wie sollte ich das auch schaffen? So weit bin ich doch noch gar nicht. Dazu muss ich noch sehr viel lernen. Da reicht ein Apfel nicht aus. Auch kein Elefantenbaby. Und auch kein U-Boot. Da braucht es schon etwas mehr. Aber sie hat mich doch auch so verstanden, das ist doch toll. Meine Ärztin geht und sie winkt mir unnützerweise. Das ist irgendwie überflüssig. Ich meine, sie steht doch nur ein paar Meter von mir entfernt. Sie muss nicht winken. Ein einfaches „Tschüss“ reicht mir vollkommen. Habe ich mich eigentlich damals verabschiedet? An dem Tag meines Schlaganfalls? Habe ich mich da von Kimi verabschiedet? Ich kann mich nicht mehr an meine Worte erinnern. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, ob ich sie an dem Morgen überhaupt noch gesehen habe. Ich erinnere mich nur noch an die Vierhundert. Es ist, als ob der ganze Rest irrelevant war. Als ob ein einziger Tag nicht mehr als Verlust war. Als ob ein einziger Tag nur Schmerz war.

Ich muss nochmal eingeschlafen sein, ein Klopfen weckt mich.

„Kooooomm re-rein“, fordere ich Kimi auf und bin stolz. Das hat ja mal fast perfekt geklappt. Wie schön. Wie eine kleine Sonne erleuchtet Kimi mein Zimmer. Sie umarmt mich und sie küsst mich und sie erdrückt mich fast. Ich wusste nicht, dass jemand so Leichtes das überhaupt kann. War mir wirklich nicht bewusst. Wir lachen beide, sie noch lauter als ich.

„Wie geht’s dir?“, fragt sie und setzt sich neben mich. Ein kleines Gespräch kann ich schon führen, sie macht es mir leicht. Ich liebe sie. Doch eigentlich warte ich auf nur eine einzige Frage.

„Was wollen wir machen?“ Das Wort ist verdammt schwer auszusprechen. Es ist lang und hat vier Vokale. Dreimal E und einmal A. Das ist schwierig. Und eigentlich bin ich noch nicht so weit. Aber wenn ich das möchte, muss ich es sagen. Ich kann es ja rein theoretisch.

„Ster-ster-ster-ster...“ Ach verdammter Mist.

„Stereoanlage?“ Das ist nicht ihr ernst. Seit wann spricht man das „St“ in „Stereo“ aus wie das „St“ in „Sterne“? Also mit „Scht“. Seit wann?

„Ich mach doch nur Spaß“, lacht sie und nimmt meine Hand.

„Sag es nochmal“, trägt sie auf.

„Steeeeer...“, mach ein langes E Romy, komm schon, „neeeeee.“

„Sterne?“

Oh Gott, ich habe es geschafft.

„Aber draußen ist es doch hell.“ Sie braucht nur einen Moment, um zu verstehen. Sie ist schon immer die Schlauste gewesen. Sie holt eine Krankenschwester, leider nicht Lena, die mich in einen Rollstuhl setzt und eine Decke gibt. Da können wir uns draußen rauf setzen, wenn wir wollen. Sie sagt, dass ich aufpassen muss. Ich kann mich selber noch nicht richtig stützen. Wenn ich mich auf die Wiese begeben will, soll ich mich hinlegen. Oder wir sollen in das Café gehen. Sie sagt, dort gibt es gutes Eis. Kimi mag Eis. Das glaube ich zumindest. Früher hat sie es geliebt. Vielleicht mag sie es jetzt aber nicht mehr. Aber Kuchen mag sie bestimmt. Wenn sie kein Eis mag, dann mag sie Kuchen. Jeder mag Kuchen, jeder. Und sie ist doch nicht anders als die anderen. Vielleicht sollten wir noch warten mit dem Sternesammeln. Vielleicht sollten wir erstmal Kuchenessen gehen.

Ich bin so gut, Kimi liebt Kuchen. Sie hat ein Stück Erdbeertorte und ich ein Stück Himbeertorte. Wir teilen beide einmal und tauschen dann. Sie sieht süß aus mit den rosigen Mundwinkeln. Das macht sie lebendig. Ähnlich wie rote Backen. Nur sind es bei ihr die Mundwinkel. Sie gibt mir die Kuchengabel und ich treffe. Sie freut sich und das freut mich. Sie ist meine kleine Schwester, auch wenn sie schon sehr früh sehr viel erwachsener werden musste, als ich es jemals durfte. Und das gibt ihr das verdammte Recht rot gefärbten Tortenguss an den Lippen zu tragen.

Diagnose: Hoffnungslos?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt