Es ist furchtbar langweilig. Ich meine, das kenne ich ja eigentlich, aber jetzt fällt mir das mehr auf als je zuvor. Lea ist vielleicht zehn Minuten weg und ich sterbe fast beim vor mich hin vegetieren. Jetzt mal ernsthaft, wie habe ich vorher überhaupt den Tag geschafft? Gut, ich hatte manchmal einen Fernseher. Wenn ich Glück hatte, haben mich die Pfleger auch noch so gestellt, dass er in meinem Blickfeld stand. Sonst war das wie eine Art schlechtes Hörspiel. Ich mag Hörspiele nicht. Mama hat mir bis ich fünfzehn war abends Bibi Blocksberg und Bibi und Tina angemacht. Ich konnte deshalb nie einschlafen und musste immer warten, bis der Kram durchgelaufen war. Das dauerte dann locker gefühlte zwei Stunden. Mindestens. Wer kann schon bei „Hex-hex, Pling-pling“ und „Bibi Blocksberg, die kleine Hexe“ schlafen? Das musste ich so lange ertragen, bis Kimi mir zu meinem sechzehnten Geburtstag einen MP3-Player geschenkt hatte. Sie hat all ihre Lieblingslieder aus den Charts runtergeladen. Justin Bieber und Miley Cyrus – mein Gott, sie war dreizehn – waren zwar auch nicht das Wahre und ich hasse mich selbst dafür, „One time“ komplett auswendig zu können, aber immer noch besser als „Bibi und Tina und das Zeltlager“. Erschreckend, wie genau ich weiß, was in den einzelnen Folgen passiert. Die Kassetten hat Kimi in ihrem Zimmer versteckt und damit Mama ziemlich provoziert. Ich werde durch die aufgehende Tür aus meinen Gedanken gerissen. Ein bisschen hoffe ich, dass es Lea ist, aber eine Ärztin stellt sich an das Ende meines Bettes. Es ist nicht die Ärztin, die mich operiert hat. Sie erklärt mir, dass sie die Neurologin Dr. März ist und mir jetzt die folgenden Schritte meiner Nachbehandlung vermitteln wird.
„Es gibt zwei wichtige Punkte, die wir zusammen bewältigen werden. Zum Ersten das Neuerlernen deiner Sprache. Du leidest an einer Aphasie, das heißt, dass du es schlichtweg durch den Schlaganfall verlernt hast. Unsere Abteilung für Logopädie wird sich darum kümmern, dass du dich in ein paar Wochen wieder unterhalten kannst.“ Sie strahlt, während sie das sagt. Sie tut das, weil ich es auch tue. Lachen macht Spaß, das kann ich schon. Außerdem hat Kimi mir mal erzählt, dass Lachen Endorphine freisetzt. Also wird man glücklicher dadurch. Ich bin glücklich.
„Zum anderen wäre dann die Physiotherapie ein wichtiges großes Ziel. Dabei sind fünf Punkte besonders wichtig. Erst werden wir eine richtige Körperhaltung aufbauen. Das heißt du wirst wieder einen geraden Rücken bekommen, du kannst dich besser koordinieren und allgemein eine schöne Haltung kriegen. Danach kommt das Aufbauen deines Gleichgewichts, ein Körpergefühl für die einzelnen Körperteile gewinnen und am Ende wirst du wieder ein normales Leben führen, Romy.“
Wenn sie das so sagt, hört sich das so schön an.
„Bist du damit einverstanden?“, fragt sie mich und ich bekomme schon fast sicher ein „Ja“ heraus. „Siehst du, das wird alles wieder! Du bist eine Kämpferin, Romy.“
Sie drückt ihr Klemmbrett an sich, auf das sie nicht einmal geschaut hat.
„Wir beginnen heute Nachmittag mit der logopädischen Therapie. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn deine Familie heute Abend erst kommt. Dann bist du auch sicher fertig. Soll ich jemanden Zuhause anrufen lassen?“ Ich habe keine Ahnung, ob meine Mutter arbeitet oder heute Zuhause ist. Ich kann ihr also nicht antworten. Gut, könnte ich ohnehin nicht. Ich glaube, das versteht sie.
„Ich glaube ich schick dir gleich mal eine Schwester vorbei, die dir den Fernseher anmachen kann.“ Sie blickt nach oben, an den Monitor, der an der Wand gegenüber meines Bettes angebaut ist.
„Ich hab keine Ahnung, wie die hier angehen“, flüstert sie und macht dabei eine wilde Geste. Sie will bestimmt lustig sein und komischerweise ammüsiert mich das wirklich. Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln und geht dann, nachdem sie mir noch einen schönen Tag gewünscht hat. Ich wünsche mir so sehr, dass Lea kommt, aber sie ist es nicht. Es ist eine andere Krankenschwester. Sie ist auch nett, aber ich habe sie noch nicht mit Milch voll gekleckert und das macht sie irgendwie nicht so sympathisch wie Lea. Außerdem scheint sie nicht zu wissen, wie alt ich bin, als sie SuperRTL einschaltet. Herzlichen Glückwunsch.
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Diagnose: Hoffnungslos?
RandomRomy war Hoffnung. Bis sie die Vierhundert gelaufen ist, war Romy Hoffnung. Doch was tut man, wenn einem jegliche Kontrolle abhanden kommt und man selbst gegen den Zweifel an der Lebendigkeit ankämpfen muss?