Fünfter Rausch

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Das Rattern der U-Bahn wiegt mich sanft hin und her und das leise Zischen ihrer Räder lässt mich schläfrig werden. Diese Müdigkeit verwundert mich nicht, da mich letzte Nacht die Schlaflosigkeit gequält hat. Meine Neugierde und mein Eckel zugleich haben mich von einem erholsamen Schlaf abgehalten. Stundenlang habe ich spekuliert, bin auf tausende Antworten und noch weitere offener Fragen gestoßen. Besonders oft, habe ich mich gefragt, weshalb sie mich am Leben ließen, weshalb sie mich nicht wie all ihre anderen Vergewaltigungsopfer skrupellos erdrosselten.

Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf. Ich erinnre mich daran, wie ich das Tatortfoto einer Mädchenleiche in den Händen hielt. Ihre Klamotten waren gewaltsam zerrissen worden. Lilablaue Flecken zierten ihre Haut, fraßen ihre Blässe auf, bildeten ein schmerzhaftes Muster auf ihr. Ihre Augen waren schmerzhaft zugekniffen, ihr Mund zu einem Schrei erstarrt und um ihren blaugefärbten Hals war noch immer das feste Draht gebunden, welches ihr das Leben genommen hatte. Das Mädchen lag in einer Wolke, einer Wolke aus ihrem getrockneten Blut.

Schnell schlage ich mir das Bild aus meinem Kopf, wohlwissend, dass mir haufenweiser solcher Fotos ins Auge springen, sobald ich die Akte jenes Falls öffne. Doch ich kann mich glücklich schätzen, war nicht ich derjenige, der die Kindesleiche auffand. Umso mehr tun mir Ten und Taeyong leid, die diesen grausamen Anblick ertragen mussten.

Als die U-Bahn hält, sehe ich alarmiert auf und realisiere, dass ich an gewünschter Station angekommen bin. Hektisch springe ich auf und gehe schnellen Schrittes durch den leeren Bahnwagon. Trotz der allzu bekannten Überlastung von öffentlichen Verkehrsmittel in Seoul, fährt um halbsieben Uhr morgens selten jemand zum Stadtrand, dies tun nur Agenten von NCT, die über kein Fahrrad verfügen. Autos dürfen wir nicht durch den Wald führen, es sei denn es sind Arbeitswagen, was nach meiner Überlegung wenig Sinn ergibt. Zumindest ziehe ich es vor, zu Fuß durch den Wald zu gehen, da ich am frühen Morgen noch keinen Sport tätigen kann.

Wie ich feststelle, bin ich auch heute der Einzige, der einen Waldspaziergang vorzieht. Doch schon als ich die Treppenstufen der kleinen Unterführung heruntergehe, überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl. Entweder leide ich an Verfolgungswahn, oder ich werde tatsächlich beobachtet. Reflexartig öffne ich meine Jacke – mit der ich meisterhaft meinen allestragenden Gürtel verdeckt habe – um meine Finger an meine Dienstwaffe zu legen. Da Agenten oftmals von rachesüchtigen Verbrecher aufgesucht werden oder wir bei der zufälligen Beobachtung eines Verbrechens einschreiten müssen, tragen wir unsere Schusswaffen immer bei uns. Selbstverständlich sind dies Pistolen, die man leicht verstecken kann, da Jaehyun niemals mit seinem Schützengewehr durch die Straßen Seouls laufen könnte.

Rein bei der Berührung mit dem kalten Metall fühle ich mich sicherer, was mir in diesem Fall bedauerlicherweise nicht von Nutzen ist. Denn ich höre es wieder, ein bekanntes Geräusch. Ein leises Zischen. Von beiden Seiten der Unterführung dringt dichter, blaugefärbter Rauch ein, legt sich wie ein Schleier über mich. Das Zeug brennt in meinen Augen und nimmt mir die Luft zum Atmen. Schützend presse ich mir den Jackenärmel über den Mund. Unwillkürlich blinzle ich mehrmals, während ich einige ungeschickte Schritte nach vorne taumle. Als wäre ein Vorhang zur Seite geschoben worden, kringeln sich die Rauchwölkchen um einen Schatten. Aus dem Nebel taucht eine schwarzgekleidete Person auf. Deutlich vernimmt man das Geräusch seines Atems, der lautstark durch die Filterung seiner Gasmaske rieselt.

Mir läuft ein Schauer den Rücken hinunter, doch ich kann nicht denken. Bereits habe ich zu viel von der Droge inhaliert um spontan handeln zu können. Drogen machen einem alles um einiges leichter, somit erkläre ich mir zumindest, weshalb mich meine Füße auf einmal in Richtung des Mannes tragen. Ich renne ihm entgegen, als könnte ich kaum abwarten, ihn in meine Arme zu schließen, die ich kurioserweise auch noch ausstrecke. Ich Handle ohne mit den Gedanken hinterherzukommen. Meine Sicht verschwimmt, dennoch bemerke ich wie meine Handflächen gegen den Körper des Mannes stoßen. Seine Hände umklammern meine Handgelenke, sodass er mich mit sich zu Boden reißt. Mühevoll entreiße ich ihm eines meiner schlappen Handgelenke und drücke ihm damit den Filter seiner Gasmaske zu. Er bekommt keine Luft, während ich die Droge mit jedem weiteren erschöpften Atemzug in mir aufnehme. Der Mann fasst sich Reflexartig an seine Maske, sodass ich mich geschwind aufrappeln kann. Ein starkes Schwindelgefühl überkommt mich, lässt die Welt um mich herum erbeben. Tapfer beiße ich die Zähne aufeinander und beginne zu laufen. Gekonnt ignoriere ich den Brechreiz und die undefinierbaren Halluzinationen von pulsierenden Bäumen und sich energisch bewegenden Ästen.

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