Wieso das Internet einst als ortlose, körperlose Freiheitszone galt. Wie Cybergeografen mit wunderschönen, bunten Karten versuchen, diesen Raum zu ordnen. Und warum dies altbekannte Freiheitsmärchen umschlägt in sein genaues Gegenteil: Plötzlich dient der Cyberspace dazu, den realen Raum mit neuester Ortungstechnik zu überwachen. Die Fluchtfantasie kippt in Krisenzeiten um in den Wunsch nach Totalüberwachung – ohne dass sich die technischen Grundlagen geändert hätten.
Wenn er hinausschaut, wirkt die Welt feindlich und fremd. Passanten hasten über die Straßen, weggeduckt vor dem eisigen Februarwind im Jahr 2000. Ein paar Häuserblocks weiter in der Wall Street weht ein noch kälterer Wind: auf dem Parkett der New Yorker Börse toben die kühl kalkulierten Stürme des globalen Turbokapitalismus. Es ist eine grausame Welt dort draußen. Hier drinnen in seinem Studio stimmt wenigstens die Temperatur. Jaron Lanier, ein untersetzter Mann Anfang vierzig mit einer riesigen Mähne von Rastalocken, watschelt hinüber zu seinem Sofa, lässt sich schwer gegen die Lehne sacken und fixiert misstrauisch die Besucher aus Deutschland. Wahrscheinlich wünscht er sich, die Eindringlinge wären schon wieder gegangen. Oder noch besser: er könnte sie einfach mit einem Mausklick entfernen. Denn diese Wohnung ist seine Intimsphäre. Seine Wohnung ist gleichzeitig sein Arbeitsraum, intim wie ein Tagebuch: Hunderte von Instrumenten lehnen und hängen in jeder Ecke, von E-Gitarren über Ukuleles, von Keyboards bis zu pazifischen Nasenflöten. Dazwischen stehen Rechner und Monitore. Kabel überziehen den Boden. Lanier betritt dieses exzentrische Privatuniversum nicht etwa vom Treppenhaus aus, sondern durch einen Lift, dessen Tür sich direkt ins Wohnzimmer öffnet. Aus dem treten jetzt auch die Besucher.
"Als erstes zwei Regeln", begrüßt er sie unwirsch. "Schuhe ausziehen. Und nicht näher als einen Meter an die Instrumente." Sir, jawoll, Sir.
Der resolute Rastaman, der aussieht wie ein Mitbewohner irgendeiner Hippiekommune, ist einer der prominentesten Computerwissenschaftler der Welt. In den Achtziger Jahren prägte er den Begriff "Virtuelle Realität". Damit meinte er im Computer nachgebaute Räume, in denen sich die Nutzer mit Tastatur, Datenhandschuh, Datenbrille bewegen können. Die ersten Kunstwelten dieser Art residierten noch auf isolierten Festplatten, die nicht über Datenleitungen verbunden waren.
Lanier hatte jahrelang in Kalifornien gelebt und dementsprechend hippiesk klangen auch seine Visionen von einer besseren Welt, die es im Computer und per Computer zu entdecken galt - fast, als ginge es um irgendeine Liebesdroge: "Ich hoffe, dass die virtuelle Realität Leute dazu bringt, sich öfter zu treffen. Sie tendiert dazu, das Mitgefühl zu stärken und Gewalt zu reduzieren." VR werde ein "gemeinsames mystisches Realitätsverständnis" schaffen. Laniers Fazit: "Die reale Realität hat etwas Tragisches, weil sie Pflicht ist. In der Virtuellen Realität dagegen gibt es viele Kanäle. Die Leute können auswählen und einfach auf eine andere Ebene zappen."
Als das Internet populär wurde, schien Laniers kleine Privatvision einer besseren Gemeinschaft im Netz plötzlich auch die virtuelle Welt der Online-Medien zu beschreiben als Fantasielandschaft der Seele.
Das Märchen vom ortlosen Cyberspace
In einem fremden Land ohne Boden gibt es kein Hier und kein Dort, kein Fern oder Nah - so will es das Märchen vom ortlosen Cyberspace, das sich begeisterte Neulinge aufgeregt erzählen nach ihren ersten Surf-Erlebnissen. Der Cyberspace. Unendliche Weite. Ortloser Ort. Dies ist das Hightechmärchen schlechthin, das alle Züge einer Utopie im Wortsinne trägt, "ou tópos", den Nicht-Ort, den Ort, den es noch nicht gibt. "Hinter dem Modem", so geht der Refrain, "muss die Freiheit wohl grenzenlos sein..." Mit dem Anmelden der eigenen E-Mail-Adresse darf sich jeder als Held im Cyberspace fühlen, jener Welt ohne Substanz. „Alle Nöte, alle Sorgen, sagt man, sind darunter verborgen..." Voller Staunen stellten die neuen Netzbürger fest, dass sich Daten fast ohne Zeitverzögerung abrufen und verschicken lassen, dass sich Telearbeit auch von einem Dorf aus verrichten lässt, dass sich in einem Chatraum leicht mit Menschen aus anderen Erdteilen plaudern lässt. Der Raum ist tot, so schlussfolgern sie. Der Ort spiele keine Rolle mehr, argumentierte die langjährige Economist-Redakteurin Frances Cairncross 1997 in ihrem Buch mit dem bezeichnenden Titel "The Death of Distance. Dieser Tod der Entfernung, so Cairncross, werde unter anderem „die Toleranz stärken und schließlich den weltweiten Frieden" herbeiführen. Hier wird die Telekommunikation als Beschleuniger der Wirtschaft beschrieben, in der sich Firmen nationalen Gesetzgebungen entziehen, indem sie Filialen an beliebige Orte im Ausland umlegen. "Die geographische wird von der chronographischen Ordnung verdrängt", warnte der Sozialwissenschaftler Bernd Guggenberger in seinem Buch "Das digitale Nirwana". "Aus den ungezählt vielen Orten dieser Welt wird ein einziger, unerschöpflich großer Ort, an dem alles sich abstandslos zusammendrängt. Die Erde kehrt gleichsam zu ihrem Ursprung zurück: Pangäa, die eine ungeteilte Einheit, die große Landmasse auf einer einzigen Kontinentalplatte, bevor die Erdteile auseinanderdrifteten und sich über die Weltmeere verteilten." Der Effekt: "Person und Ort" verflüchtigen sich "zwischen Überall und Nirgendwo".
YOU ARE READING
Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)
Non-FictionDer Tod der politischen Utopien gebiert technische. Hightechmärchen versprechen, dass jeder sich vom Aschenputtel zum Hans im Glück wandeln kann mit Hilfe der richtigen Technik. Technikmärchen unterhalten die Neugierigen und trösten die Technophoben...