Wie die Datenflut anschwillt und wie die Erlösungsfantasie eines unendlich großen, unendlich haltbaren Digitalhirns Trost spendet. Warum die Jagd nach immer neuen, immer besseren Speichertechniken sowohl Teil der Lösung als auch des Problems ist. Wie das Märchen vom Digitalgedächtnis von den alltäglichen Bedrohungen durch Magnetfelder, Missmanagement und Mikroben ablenkt. Und wie der allgegenwärtige elektronische Alzheimer neue Kulturtechniken des Erinnerns, Vergessens und Fantasierens erfordert.
Erinnern ist harte Arbeit. Tag und Nacht kämpfen zwei Roboter gegen das Vergessen. Hoch über den Dächern von Hamburg, im 15. Stockwerk eines Hochhauses der Universität, huschen sie mit ihren Metallarmen lautlos durch die Regale des zentralen Magnetbandarchivs, richten ihre roten Laseraugen auf Datenbänder, greifen Cassetten heraus und schieben sie in Laufwerke. Das Deutsche Klimarechenzentrum (DKRZ) ist eine technisch hochgezüchtete Erinnerungsfabrik. Mehr als 6000 Datenbänder lagern hier in zwei wohnraumgroßen Datensilos bei genau 21,9 Grad Celsius und 45 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit: mehr als 100 Terabyte Daten – genug, um den gedruckten Inhalt der Library of Congress in Washington, der größten Bücherei der Welt also, fünfmal abzuspeichern.
Erinnern bedeutet im Zeitalter der digitalen Information harte Arbeit. Wenn die Bänder nicht regelmäßig umkopiert werden, sind sie schon bald nicht mehr lesbar. Ihr Inhalt beim DKRZ ist kostbar, eine Art binäres Orakel, das zum Beispiel über Klimaveränderungen Auskunft geben soll: wie warm in 50 Jahren die Nordsee sein wird, wie groß das Ozonloch, wie hoch das Hautkrebsrisiko. Klima- und Wetterprognosen könnten Menschenleben retten und Millionenschäden verhindern. Doch dass sich die Forscher zukünftig aus diesem Schatz werden bedienen können, ist alles andere als selbstverständlich. "Wenn ich überlege, ob wir diese Daten in 30 Jahren noch werden lesen können, wird mir manchmal ganz mulmig", ruft Wolfgang Stahl im DKRZ gegen das Dröhnen der Klimaanlage an. "Dann wünsche ich mir, irgendetwas Einfaches zu verwalten. Die Zehn Gebote zum Beispiel. Tontafeln halten Jahrtausende."
Das Märchen vom digitalen Weltgedächtnis
Das Märchen vom digitalen Weltgedächtnis ist einfach: Es geht um die Angst, zu vergessen. Und vor allem: vergessen zu werden. So wie Scheherezade im Märchen permanent plaudern muss, um ihr Leben zu retten, so folgt der Homo informaticus dem Motto: Ich speichere, also bin ich. Denn die Wissensgesellschaft basiert auf Daten, Fakten und Erfahrungen. Das ist eine verlockende Perspektive für die, die keinen Mercedes und keine Villa besitzen, sondern nur über geistiges Kapital verfügen. Aber Wissen als Rohstoff und Kapital ist flüchtiger als Immobilien und Bankkonten und erschafft dadurch eine neue Existenzangst: zu vergessen. Wer vergisst, vernichtet Kapital, Qualifikationen, sozialen Status. Vergessen bedeutet nicht nur Informationsverlust, sondern für den Homo informaticus auch den Verlust von Identität. Jeder kennt das traumatische Erlebnis, wenn kalt die Angst den Nacken hochkriecht: Wie ging noch einmal die Pin-Nummer fürs Konto? Wo liegt der Zettel mit den Tan-Nummern? Und der Sicherheitscode fürs Handy? Meist passiert es nach dem Urlaub: Man fühlt sich ausgeschlossen aus dem eigenen Leben, kann nicht mehr telefonieren oder bezahlen. Und alles nur, weil das Gedächtnis die vier Wochen Strandurlaub nicht ohne Datenverlust überstanden hat.
Das Märchen vom digitalen Gedächtnis spendet Trost, denn es verspricht ein Trapez, welches vor dem Sturz in die analoge Amnesie bewahrt. Das Märchen vom digitalen Weltgedächtnis ist einfach und besteht nur aus drei Komponenten: Die Infoflut, der Held namens Ich und eine rettende Insel des festgefügten Wissens. Ständig droht die anschwellende Informationsflut grausam über dem Ich zusammenzubrechen, allein auf der hohen See des Wissensozeans. Ständig heißt es, Wasser aus dem Boot zu schöpfen, um nicht unterzugehen. Ständig muss er Zahlen, Daten, Fakten sichten, sammeln und entsorgen. Nur eine kurze Unachtsamkeit, und sein Kahn kentert und er ersäuft. Da taucht am Horizont die Insel der Erinnerung auf. Was draußen in der Datenflut bedrohlich ist, wirkt hier lebenspendend. Datenströme mäandern ruhig durch die Landschaft der Jugend, lauwarmer Pixelregen bringt Plantagen voll überreifer Lesefrüchte zum erblühen, die lockend von Bäumen der Erkenntnis hängen. Die Insel der Erinnerung ist Paradies, Heimat und Jugenderinnerung in einem. Die Form ihrer Hügel und Berge erinnert an ein eigenartiges, zerfurchtes Gebilde. Bis der Held Ich begreift: Die rettende Insel ist nichts anderes als ein riesiges Gehirn. Und zwar sein eigenes. Nur unendlich viel größer. Ein schönes Märchen, das ewiges Speichern mit ewigem Leben gleichsetzt. Ein trügerisches Märchen, das in demselben Maß populär wird, wie die Bedrohungsgefühle durch die Zumutungen der Informationsgesellschaft zunehmen.
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Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)
Non-FictionDer Tod der politischen Utopien gebiert technische. Hightechmärchen versprechen, dass jeder sich vom Aschenputtel zum Hans im Glück wandeln kann mit Hilfe der richtigen Technik. Technikmärchen unterhalten die Neugierigen und trösten die Technophoben...