Das sozialromantische Märchen von der harmonischen virtuellen Gemeinschaft schien als einer der Gründungsmythen des Internet nicht totzukriegen. Verlassene globale Dörfer und digitale Geisterstädte säumen seinen Weg. Doch nun könnte es sich zu Tode siegen. Denn seine Gegner haben es grausamerweise verankert innerhalb der Internet-Selbstverwaltung Icann. Seitdem herrscht die virtuelle Gemeinschaft im Netz. Und niemand geht hin. Wie immer.
Kairo, im März 2000. Nach außen hin ist der Ausblick atemberaubend. Aber drinnen im Konferenzzimmer Nofretete 3 hat keiner mehr den Durchblick, hoch droben im 23. Stockwerk des noblen Sheraton Hotels direkt am Nil. "Wollen wir jetzt darüber abstimmen", fragt ein Chinese, "ob wir ein Komittee bilden wollen? Das Kommitte würde dann Vorschläge ausarbeiten, über die wir dann abstimmen würden..." Wie bitte? "Please speak more slowly", ruft einer aus dem Saal. In der Ferne zeichnen sich die Pyramiden von Gizeh durch den flimmernden Staub und Smog der Nachmittagshitze ab, Fast fünftausend Jahre Menschheitsgeschichte. Von unten tönt das Hupen und Schreien auf der Straße. Währenddessen wird hier oben die Frage gedreht und gewendet: Wer soll regieren im gigantischen Neuland? Wie soll das Internet, der weltweite Computerverbund, verwaltet werden? Dies ist das Treffen der Internetverwaltung namens Icann, eine Art internationalem Postamt fürs Internet. Ihre Aufgaben: Die weltweite Vergabe von Internetnamen wie zum Beispiel www.mcdonalds.com und das Festlegen der Sprachen, durch die sich Rechner austauschen. Eigentlich recht trockene Materie, die jedoch starke Begehrlichkeiten weckt, und das weltweit: Nationalregierungen fordern ein Mitspracherecht, Rechtsanwälte wollen globale Markennamen schützen, Provider wollen durch den Verkauf von Internetadressen Geld verdienen, Nutzergruppen fordern mehr Demokratie. Technik ist Politik und jeder Bürger ein Betroffener.
Darum sitzen sie hier im 23. Stockwerk. "Aber vorher muss klar sein, ob jemand, der schon einmal in einem Kommittee war, wieder in dies Komittee darf" wirft eine Deutsche in Lederjacke ein. Neben ihr auf dem Boden sitzt ein Japaner mit Schlips und Anzug und schreibt fleißig am Laptop mit. Und hinten am Fenster ist Esther Dyson gelangweilt mit ihren Stuhl nach hinten gekippelt, das Tagungsprogramm zwischen den Zähnen, und beantwortet elektronische Post aus aller Welt, statt zuzuhören. Dyson ist eine zierliche Frau um die Fünfzig in Jeans und T-Shirt, mit scharfem Profil und noch schärferem Verstand, Hightech-Investorin und Buchautorin und bis Ende 2000 die Vorsitzende von insgesamt 19 Direktoren in der Internetverwaltung namens Icann. Journalisten beschreiben sie als "Königin des Cyberspace", oder „First Lady des Internet". Tatsache ist: Hier lümmelt sich eine der mächtigsten Frauen der Netzwelt in einem internationalen Gremium herum wie eine genervte Gymnasiastin. Aber hier oben gelten eben etwas andere Regeln als im Rest der Welt. Die Meinungsfindung wird hier zelebriert als Mischung aus basisdemokratischer Wohngemeinschaft und geheimnistuerischem Weltsicherheitsrat. "DNSO ccTLD" heißt das Thema des Treffens im 23. Stock, eines von unzähligen Plenen, Besprechungen, Round Tables, die parallel und nebeneinander und gegeneinander stattfinden. "Weißt du, wo die DNSO gTLD tagt?", tuschelt einer. "In Nofretete 6!" Jeder der Teilnehmer ist verunsichert und hat permanent das Gefühl, die entscheidende Abstimmung irgendwo im Nirgendwo zu verpassen. Sie kommen aus aller Welt und kennen sich und ihre jeweiligen Meinungen schon lange aus einschlägigen Internet-Foren, sodass sie einen eigenen Jargon sprechen, voller Kürzel wie "gTLD-MoU", "APNIC", "GAC" und "DNSO ISP".
"Weltregierung des Internet" wird die Icann bisweilen genannt, denn sie entscheidet maßgeblich über die Zukunft der internationalen Kommunikation. Vor dreißig Jahren hätte man gesagt: Wir haben es geschafft: Bürger aus aller Welt beraten ungezwungen und herrschaftsfrei über die Regeln des Miteinanders in jenem mythischen Land ohne Boden namens Internet. Im Schatten der Pyramiden scheint eine Menschheitssehnsucht wahr zu werden. Entstation Sehnsucht für ein großes Zukunfts-Märchen.
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Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)
Non-FictionDer Tod der politischen Utopien gebiert technische. Hightechmärchen versprechen, dass jeder sich vom Aschenputtel zum Hans im Glück wandeln kann mit Hilfe der richtigen Technik. Technikmärchen unterhalten die Neugierigen und trösten die Technophoben...