Wieso das menschliche Genom nicht nur einmal "entschlüsselt" wurde, sondern wieder und wieder. Wie Industrie, Börse und Öffentlichkeit die Biowissenschaftenumkempeln. Wie diese Kommerzialisierung allerlei krude Märchen von der Überwindung von Krankheit, Hunger und Tod hervorbringt. Wieso all das nur der Startschuss für einen langwierigen Forschungsmarathon ist. Und abschließend noch ein Lackmustest, der bellen kann und grün leuchtet.
Früher feierte man Jubiläen, um an vergangene Ereignisse zu erinnern. In den Nuller Jahren dagegen wird gerne einmal auf zukünftige Ereignisse angestoßen. Der damalige US-Präsident Bill Clinton schreibt also gleichsam Zukunftsgeschichte, als er am 26. Juni 2000 um zwanzig nach zehn Uhr morgens im Weißen Haus vor die Kameras und Mikrophone der Presse tritt, um eine einzigartige kleine Talkshow zu moderieren. "Wir sind hier, um die Fertigstellung des ersten Überblicks über das gesamte menschliche Genom zu feiern", begrüßte Clinton die Anwesenden. "Heute lernen wir die Sprache, mit der Gott das Leben erschaffen hat", erklärte er. "Die Genforschung wird ganz real unser Leben beeinflussen - und sogar noch mehr das Leben unserer Kinder. Sie wird die Erkennung, Vorbeugung und Behandlung der meisten, wenn nicht gar aller menschlichen Krankheiten revolutionieren." Und weiter: "Tatsächlich kann man sich vorstellen, dass die Kinder unserer Kinder das Wort 'Krebs' lediglich kennen als Bezeichnung für ein Sternbild."
Dann beginnt Clinton zu plaudern mit einem Überraschungsgast, der eigentlich gar nicht anwesend ist: Tony Blair, dem britischen Premierminister, der per Satellitenschaltung von seinem Amtssitz in der Downing Street in London anwesend ist. "Globale Gemeinschaft", "wissenschaftlicher Durchbruch" und andere Worthülsen fallen rechts und links des Atlantik, es wird gelacht, thank you Bill, thank you Tony, Applaus Applaus und weiter im Programm. Auch in Deutschland, China und Frankreich wird die "Entschlüsselung des Menschen" ausgiebig gefeiert.
Allerlei Superlative werden an den Haaren herbeigezogen. "Die Kartierung des menschlichen Genoms ist mit der Mondlandung verglichen worden", sagt Michael Dexter, der Direktor des Wellcome Trust, einer britischen Stiftung, die maßgeblich an der Finanzierung beteiligt gewesen ist. "Aber ich glaube, es ist viel wichtiger als die Mondlandung." Bei einer Pressekonferenz in London sagte er weiter: "Dies ist nicht nur die außergewöhnlichste Leistung unseres Lebens, sondern vielleicht sogar in der gesamten Menschheitsgeschichte."
Der globale Jubel ist um so erstaunlicher, als die gefeierte Arbeit großenteils unerledigt ist. Man hat, so scheint es, das Richtfest schon zur Grundsteinlegung gefeiert, oder die Pointe vor dem Witz erzählt. Denn im Juni 2000 liegen erst etwas mehr als 90 Prozent der Rohdaten des menschlichen Erbguts vor, und davon nur 24 Prozent in endgültiger Form: Etliche Millionen von einzelnen Informationsschnipseln, die erst noch in die richtige Reihenfolge gebracht werden müssen. Eine einigermaßen detaillierte, halbwegs fehlerfreie Karte des menschlichen Genoms wird erst für das Jahr 2003 erwartet. Erst dann kann daran gedacht werden, die "Sprache Gottes", die dann im Rohformat vorliegt, zu entschlüsseln, ihren Satzbau, ihre Grammatik und ihren Sinn. Erst dann beginnt die eigentliche Arbeit – der Treck ins gelobte Land Genetien.
Die Offenlegung der menschlichen Erbgutsequenz wird gern erzählt als Higtech-Märchen im Futur zwei, als Rückblick aus dem Morgen-Land: Es wird einmal, in langer langer Zeit, gewesen sein. Unsere Kindeskinder werden den Krebs nur noch als Sternbild kennen. Unsere Kindeskinder werden ein besseres Leben leben und Krankheit, Alter und vielleicht sogar den Tod nur noch vom Hörensagen kennen. Das Hightechmärchen im Futur zwei ist doppelt schön, denn es bedeutet eine Selbstverzauberung: Die eigene Zeit wird als mythische Vergangenheit imaginiert, gesehen aus der Perspektive eines besseren Morgen. Vor allem aber ist das Märchen eine Art Sammelsaga, in der viele andere Hightechmärchen als neuer Remix zusammengefasst sind. Held der Handlung ist wie immer der Zuhörer selbst. Er ist nicht mehr ein Homo Faber wie in den meisten anderen Mythen, dessen Wundermaschinen mit Namen wie Modem oder Handy ihm Zauberkraft verleihen. Im Gentechnik-Märchen imaginiert sich der Zuhörer nicht mehr als seines Glückes Schmied, sondern als seines Glückes Arzt, der nicht irgendwelche Gegenstände in die Hand nimmt, sondern seine eigene Gesundheit, und die seiner Kinder gleich mit. Statt ins Weltall aufzubrechen, erkundet er nun als Egonaut die Geheimnisse des eigenen Körpers.
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Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)
Non-FictionDer Tod der politischen Utopien gebiert technische. Hightechmärchen versprechen, dass jeder sich vom Aschenputtel zum Hans im Glück wandeln kann mit Hilfe der richtigen Technik. Technikmärchen unterhalten die Neugierigen und trösten die Technophoben...