Warum seriöse Zukunftsforscher nicht als Propheten taugen. Und warum sie gerade daher so wichig sind. Wie die Profis fürs Morgen allerlei abwegige Hightechmärchen gegeneinander ausspielen, um dennoch zu verwertbaren Vorhersagen zu gelangen. Warum für sie die Zukünfte immer nur im Plural existieren. Und was die Cheshire-Katze damit zu tun hat.
Neujahr 2020. Kerstin findet die Küche nicht. Liegt wohl daran, dass sie für die Party die Einzelmodule ihres flexiblen Hauses komplett umgestellt hatte. Verkatert checkt sie das Mikro-Display auf ihrem Ehering: "1,2 Promille", melden die Alkoholsensoren aus ihrer Blutbahn. Nebenan lärmt der Leasingroboter beim Staubsaugen. "Bring mir 'ne Aspirin", befiehlt Kerstin. Der Roboter nickt. Sie gähnt. "Fernsehen bitte", sagt sie, und die Tischdecke vor ihr flackert auf.
Wieder so ein verschnarchter Rückblick im Ersten. Wie 2003 in Deutschland wieder Dienstboten auftauchten. Die Verschärfung der Arbeitslosigkeit bis 2006. Einige Jahre später der Sieg über Krebs und Aids. Und schließlich letztes Jahr die Ausrufung des Paneuropäischen Staatenbundes (Pest). "Hör auf zu singen", schnauzt Kerstin den Leasingroboter an, als der die Tabletten bringt. Wahrscheinlich ein Wackelkontakt im Stimm-Modul. Ständig dudelt er "Tomorrow never comes..."
So oder so ähnlich sieht Kerstin Cuhls die Zukunft. Cuhls ist Deutschlands vielleicht bekanntestes Orakel. Gemeinsam mit zwei Kollegen vom Fraunhofer Institut Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe gibt Cuhls den Delphi-Report heraus (www.isi.fhg.de). Die Themen: Was sind die wichtigsten Innovationen in Wissenschaft und Technik? Und wie verändern sie unser Leben? Auf 450 Seiten beantwortet der Report von 1998 solche Fragen mit mehr als tausend Visionen, die bis zum Jahr 2025 Wirklichkeit werden könnten.
"Ich gelte hier am Institut als alter Hase", sagt Cuhls, die schon 1992 am ersten deutschen Delphi-Report mitgearbeitet hat. Die Zukunft, die sie entwirft, ist echte deutsche Wertarbeit und der Aufwand gigantisch: 1,5 Millionen Mark kostet die Studie, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Fast 2000 Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft wurden gleich zweimal befragt. Und zwar anonym, damit sie bei der zweiten Befragungsrunde ihre Meinung ändern konnten, ohne sich zu blamieren. Denn nichts ist so peinlich wie eine Fehlprognose - auch wenn das statistisch möglicherweise ähnlich wahrscheinlich ist wie ein Treffer.
Mit ihrem Namen verweist die Delphi-Studie auf frühere Versuche, die Zukunft vorauszusagen. Im antiken Griechenland atmete die weise Pythia im der kleinen Siedlung Delphi Erddämpfe aus einer Felsspalte ein und berieten in Trance Ratsuchende. Dem legendär reichen König Krösus etwa verkündete sie vor einer Schlacht, er werde ein großes Reich zerstören. Erst nach der Niederlage wusste man: es war sein eigenes gemeint. Gut beraten, trotzdem dumm gelaufen. Märchen über das Morgen sind eben immer nur so gut oder schlecht, wie ihre Interpretation.
Niemand vermag, ins Morgen zu schauen. Doch gerade diese Unmöglichkeit macht den Versuch zu einem beliebten Gesellschaftsspiel.
Märchen im Futur II
Es wird einmal, in nicht allzu ferner Zeit, Methoden geben, um die Zukunft präziser vorherzusagen denn je zuvor, dies Märchen erzählt man sich gerne auf Stehpartys als ein Stück alltäglicher Science Fiction. Zukunft wird schließlich aus Gegenwart gemacht, und wer es versteht, so viele Meinungen und Fakten im Hier und Heute zu sammeln, kann sagen, wie das Morgen aussieht. Der Wetterbericht ist schließlich auch von Jahr zu Jahr präziser geworden, und mittlerweile modelliert man sogar das globale Klima. Sogar bei Wahlen sind die Vorhersagen oft erstaunlich präzise. Wenn man vorhersagen könnte, welche Zukunftsmärchen vom Grundgehalt wahr sind und welche nur Werbegewäsch, könnte man sich allerlei Arbeit und Überraschungen ersparen - unter anderem Bücher wie dies. Eine derartige Stiftung Märchentest wäre sozusagen das finale Märchen, the Märchen to end all Märchen sozusagen. Leider hat dies wunderbare Finalmärchen einen Schönheitsfehler: Gerade die Zukunftsspezialisten halten die sichere Vorhersagbarkeit für abwegig. Und je seriöser ein Futurologe ist, desto stärker wird er all seine Vorherssagen relativieren. Es ist paradox. Wer über die Zukunft redet, verfälscht sie bereits, und nur wer schweigt, kann keinen Unsinn erzählen.
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Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)
Non-FictionDer Tod der politischen Utopien gebiert technische. Hightechmärchen versprechen, dass jeder sich vom Aschenputtel zum Hans im Glück wandeln kann mit Hilfe der richtigen Technik. Technikmärchen unterhalten die Neugierigen und trösten die Technophoben...