Wie der Startup-Unternehmer zum mutigen Held stilisiert wurde, zu einem Kosmonauten im Cyberspace, der furchtlos ins unbekannte Morgen-Land der permanenten Innovation aufbricht. Wie die Öffentlichkeit an den börsennotierten Märchen mitschreibt und sie grausam abwürgt, wenn die Märchenhelden nicht dem Rollenmuster des strahlenden Hightech-Revoluzzers gerecht werden. Und wie das Publikum vor lauter Häme über die Bruchlandung seiner gefallenen Helden die eigentliche Pointe der Geschichte verpasst: Die Wissensgesellschaft ist ein bunter Geschichtenbasar und braucht nicht weniger Fantasie, sondern mehr. Und vor allem ein aufmerksameres, skeptischeres Publikum.
Ende 1999. Es waren Partys der etwas anderen Art. Als die Kids vom Catering um halb zehn endlich die durchgeweichten Pappschachteln auftischen, ist die Pizza längst kalt. Trotzdem gibt es Tumult. Ein Gedränge und Geschiebe zum "Buffet", als sei diese trendy Fabriketage in Kreuzberg ein Obdachlosenasyl. Junge Damen im Businessdress stecken hastig ihre Tausendundeinemark-Nokias weg und drängeln sich vorbei an modisch-struwweligen und doch maßangezogenen Jungmanagern im Prada-Look und Kids mit bunten Kuriertaschen. Oliver setzt zum Angriff an. Nicht einfach, indem er sich blind ins Getümmel wirft. Nein, moderne Schlachten werden an der Logistikfront gewonnen. "David!", ruft er hinter sich ins Getümmel, "ich reiche dir eine Pizza nach hinten.", Schon greift Oliver ein labbriges Pizzastück und befördert es über die Köpfe der drängelnden Futterkonkurrenten nach hinten, wo David es in Empfang nimmt und weiterreicht an einen dritten Kumpel, der die Beute in Sicherheit bringt. Dann noch ein Stück und noch eines. Die drei bilden eine effiziente Transportkette - einen neuen Vertriebsweg sozugagen. Die Konkurrenz hat keine Chance. Genauso hätte es Bill Gates sicher auch gemacht, wenn er hier wäre mit Steve Ballmer und den anderen Bluthunden von Microsoft. Schnell sind die Pappschachteln leer geräumt. "Tja, wer zu spät kommt...", grinst Oliver, und beißt in seine Labberkruste. Die Drängler ringsumher, die es nur bis zur zweiten Reihe geschafft haben, bleiben an diesem Abend hungrig.
Aber nun die Sensation für jeden Hobby-Ethnologen: Niemand murrt im Stamm der Jungunternehmer. Dabei ist doch keiner der hier Versammelten auf den Mund gefallen. Im Gegenteil. Den ganzen Abend lang schon haben sie fieberhaft durcheinandergeredet, haben versucht, sich gegenseitig von Geschäftsmodellen zu überzeugen, haben über die Zukunft von Online-Gemeinschaften fabuliert, über Content, Push und E-Commerce. Haben den Katechismus der New Econony heruntergebetet, mit Glaubenssätzen wie "Im Netz ist alles anders", "Die Community ist der Content", "Hyperlinks untergraben Hierarchien", "Das Internet ist die größte Innovation seit der Gutenbergbibel", "Wir haben die Benchmarks outperformed" oder "Wir sind voll committed für den IPO". Wobei IPO den Börsengang meint und englisch ausgesprochen wird als Ei-Pi-Ou. Schwätzend versichern sich die Gründer ihrer Existenz - ich rede, also bin ich. Doch eigenartigerweise wird in dieser quicklebendigen Erzählgemeinschaft nicht gestritten oder diskutiert, sondern nur gemeinsam geträumt vom großen Geld im Netz der Netze. Konfrontation, Widerspruch und Kompromisse haben im Katechismus der Startups keinen Platz. Die ungeschriebene Etikette diktiert eine eherne Regel: Der Schnelle frisst den Langsamen, der Innovative den Konservativen. Und wer nörgelt, hat schon verloren, selbst wenn es nur um eine alte Pizza geht. Niemand beschwert sich über die Rüpel, denn siehe: den Schnellen und Pfiffigen gehört die Welt.
Willkommen im Club der Existenzgründer. Willkommen bei der Veranstaltung "Silicon City", die kurz vor dem Wechsel ins neue Jahrtausend in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg erstmals über die Bühne ging. "Silicon City" und ähnliche Veranstaltungen wie "First Tuesday" oder "Startup meets Startup" sind eine eigenartige Mischung aus Party, Kindergeburtstag und McKinsey-Beratung, die einem einzigen Zweck dient, nämlich der Verkuppelung von altem Geld mit frühreifen Ideen. Herkömmliche Benimmregeln sind hier außer Kraft gesetzt, dies Balzritual ist eine Art interaktives Rollenspiel mit eigenen Regeln. Gier ist gut, denn dies Spiel handelt vom Rennen der "Hungrigen" gegen die "Satten", der New Economy gegen die etablierte Wirtschaft. Wir gegen die. Und jeder will "wir" sein.
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Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)
Non-FictionDer Tod der politischen Utopien gebiert technische. Hightechmärchen versprechen, dass jeder sich vom Aschenputtel zum Hans im Glück wandeln kann mit Hilfe der richtigen Technik. Technikmärchen unterhalten die Neugierigen und trösten die Technophoben...