Wie ein Betriebssystem als heiliger Text gefeiert wird. Warum Linux die Schreibtische und Herzen von Otto-Normaluser nicht erreicht. Wie das Märchen von David gegen Goliath die Linux-Gemeinde motiviert. Und andererseits in die Irre leitet und Geld und Talent verschwenden lässt für sinnlose Entwicklungsarbeit. Und warum die eigentliche Stärke von Linux vor allem in seiner Schwäche liegt: in tausenden von Programmierfehlern.
Es sind Partys der anderen Art, geprägt von Ernst und Arbeit. „Linux-Install-Partys" fanden eine Weile lang um die Jahrtausendwende landauf, landab statt. In Uni-Rechenzentren und in Jugendzentren laden junge, ernste Männer die Öffentlichkeit ein, ihre Festplatten von Microsoft-Programmen in einem aufwendigen Ritual zu reinigen und statt dessen Linux zu installieren. Party ist vielleicht das falsche Wort, denn es gibt lediglich schalen Filterkaffee und ein paar Kekse - und Frauen fehlen ganz. Die Vorhänge sind zugezogen, damit die Bildschirme heller strahlen. Die klösterliche Ruhe wird nur unterbrochen vom Klicken der Tastaturen. Hier sind Computer noch nicht und nicht mehr die Ablenkungsmaschinen der Spieleindustrie, sondern Konzentrationsapparate und politisches Programm.
Linux ist ein Betriebssystem, das im Internet kostenlos erhältlich ist. Nachdem sein Namensgeber Linus Torvalds vor zehn Jahren mit der Arbeit begann, wurde und wird es gemeinsam von tausenden von begabten Programmierern aus aller Welt per Internet weiter zusammengeschustert. Ein Unterfangen, so erfolgversprechend wie der Turmbau zu Babel, könnte man denken. Doch wundersamerweise funktioniert das Betriebssystem erstaunlich gut.
Man duzt sich, auch Neulinge werden sogleich aufgenommen in die verschworene Gemeinschaft. Dietmar zum Beispiel, ein Medizintechniker Mitte Vierzig, trägt schwer an seiner Bekehrung: Tower, Monitor, zwei Festplatten, Modem hat er von zu Hause aus hergeschleppt, um seinen Rechner vom falschen Leben ins richtige zu holen. Zehn Kilo guter Wille. Nun sitzt er vor seinem Gerät und lässt sich von den Studenten aufklären. Wo er mühsam mit einzelnen Fingern tippt, streicheln sie ein Solo auf die Tastatur, elegant wie Pianovirtuosen. Auf seinem linken Knie lastet die über 1000 Seiten starke „Linux-Bibel", das "Neulinge-Testament", wie er es nennt, auf dem rechten ein Schreibblock mit Einträgen wie „DF6KC:~#cat/dev/soundstat". Dietmar stöhnt darüber, wie hart doch die Arbeit so dicht am Code ist. Aber auch irgendwie befriedigend. Kein billiger Schnickschnack wie Windows-Dialoge betrügen ihn hier um seine eisern erkämpfte Souveränität. Hier muss er sich selbst beweisen, gelehrig und geduldig sein.
Warum eine Installationsparty? Und warum öffentlich? "Das ist die Philosophie der freien Software", sagt Matthias, ein Pädagogikstudent, während einer Raucherpause auf dem Flur. "Ich bekomme die Software kostenlos und gebe dafür kostenlos etwas an andere weiter. Hoffentlich tragen die Neu-User diese Philosophie weiter." Linux ist mehr als ein Betriebssystem. Es ist eine Einstellung, ein Ideal.
Das Märchen von der Betriebssystemkritik für alle
Und siehe, es wird einmal, in gar nicht allzu ferner Zeit die Welt befreit aus den Fesseln des bösartigen Microsoft-Monopols durch die wundersame Kraft des Guten Codes von Linux. Dies Credo wird gerne, häufig und im Brustton tiefster Überzeugung von den Anhängern des Betriebssystems Linux vorgetragen. Linuxianer sind keine Erzählgemeinschaft wie jede andere, wie die Marsmärchenonkels, die Startup-Unternehmer oder die Esoteriker des Weltgedächtnisses. Linux-Jünger pflegen ein fast religiöses Verhältnis zu der Software, für die sie kämpfen, und sie tragen ihr Märchen meist im Predigtton vor und mit gehörigem Weltverbesserungspathos: Es begab sich aber, dass Bill Gates groß und mächtig wie der Pharao selbst geworden war und die Welt unterjochte mit hohen Abgaben und niederträchtig schlechten Programmen. Im ganzen Reich fand sich niemand, der es wagte, aufzubegehren gegen den Code der Sklaverei. Bis eines Tages eine Gruppe von Schriftkundigen sich zusammenfand, um eine Art David zu programmieren, der es mit dem grimmigen Goliath Gates aufnehmen könnte. Sie nannten ihr Kampfprogramm "Linux". Wo Gates gierig ist, da ist Linux großzügig, wo Gates schlampt, da ist Linux zuverlässig, wo Gates Geheimnisse hat, steht Linux für Offenheit. Und es wird kommen der Tag, da Linux den Sieg davon trägt und alle Festplatten gesäubert sind von der Verunreinigung durch die Gates-Produkte. Doch dafür braucht es einen starken Glauben. Die Ungläubigen aber verdienen die ewige Verachtung der Rechtgläubigen. Denn mit etwas Geduld und gutem Willen könnte jeder Computernutzer Linux auf seinem Rechner installieren und so das weltumspannende Quasimonopol von Bill Gates brechen. Soweit das Märchen. Prinzipiell ist es richtig. Aber in der Praxis ist es weltfremdes Cyblabla und Digidada, das schon einige Firmen in den Ruin getrieben hat. Warum, das zeigt der Besuch beim exotischen Stamm der Linux-Freunde.
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Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)
Non-FictionDer Tod der politischen Utopien gebiert technische. Hightechmärchen versprechen, dass jeder sich vom Aschenputtel zum Hans im Glück wandeln kann mit Hilfe der richtigen Technik. Technikmärchen unterhalten die Neugierigen und trösten die Technophoben...