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"Willst du es nicht verstehen? Machst du das nur um mich zu nerven? Ich habe verdammt nochmal keine Lust mehr, McEllister! Verlass meinen Raum, wenn du keinerlei Ambitionen hast, herausfinden zu wollen, was du wirklich bist!" Kate spitzte die Lippen und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. "Ich verstehe es einfach nicht, Herr Rupert. Es macht keinen Sinn. Ich will es ja verstehen, aber ich kann es nicht." Herr Rupert sackte auf seinem Stuhl förmlich zusammen und stöhnte tief aus seiner Brust. Er war eine kleine Dramaqueen. Sein Drehstuhl knarzte, als er sich wieder aufrichtete und sie resigniert anstarrte. "Nun gut, McEllister. Ein letztes Mal, ein letztes Mal, weil du es bist." Kate entschloss dieses Mal, genau zuzuhören und lehnte sich sogar ein wenig vor. Auch sie saß auf einem Drehstuhl und mussten direkt wieder den Drang unterdrücken, hin und her zu rollen. "Also, McEllister. Ein jeder Mensch wird geboren und fängt bei hundert an und ein jeder Mensch stirbt und endet bei null. Aber was wäre unsere Welt ohne Außnahmen?" Diesen 'Witz' hatte er die letzten vier Erklärungsversuche auch gebracht, soweit hatte Kate noch zugehört. "Es gibt Menschen, die widersetzen sich diesen Gesetzen. Menschen die leben, obwohl sie hät-" "Ähhhm, kurz ne Frage wegen diesem 'Hundert-bis-null-Gesetz', Herr Rupert. Babies, die bereits im Mutterleib sterben, haben die dann auch quasi ihr Leben von hundert bis null gelebt? Auch, wenn es nur so kurz war?" Ein schmallippiges Lächeln erschien auf Herr Ruperts Lippen. "Es freut mich, das du Fragen stellst, aber bitte. Unterbrich mich nicht. Wir kommen später zu deiner Frage zurück. Wo war ich stehen gebl-" Es klopfte und Kate erlaubte sich aufzustehen und die Tür zu öffnen, nicht, ohne davor einen Blick in Herr Ruperts Richtung zu werfen und sich an seinem verärgerten Blick zu amüsieren. "Hallo, Mr Rupert!" "Herr Rupert", knurrte er den kleinen Jungen an, der breit grinsend in der Tür stand und ein kleines Tablett mit einer gefährlichen schwankenden Tasse Tee in den Händen hielt. "Mrs Winston hat gesagt, ich solle ihnen den Tee bringen!" Herr Rupert wuchtete seine Masse in die Höhe und wachtelte schwerfällig zur Tür um den Jungen murrend das Tablett abzunehmen. "Jaja, jeden Mittag dasselbe. Und nun scher dich fort, Bube!" Kichernd rannte der kleine Junge den Weg, den er gekommen war, zurück und verschwand hinter einer Kurve. "Auch du gehst, McEllister. Wir sind hier fertig."
Überrascht drehte sie sich nach ihm um und protestierte. "Wieso das denn? Sie waren doch noch ganz und gar nicht fertig!" Herr Rupert ließ sich schwerfällig zurück auf seinen Stuhl fallen. "Jetzt trinke ich meinen Tee. Du störst mich nicht dabei." Kate schnalzte mit der Zunge, nahm ihre leichte Jacke von der Stuhllehne und verließ ohne weitere Worte sein Büro. Im nächsten Moment spürte sie die Sonne auf ihrem Gesicht. Sie hatte bis heute nicht verstanden, warum Herr Ruperts Büro ein eigenes, kleines Gebäude war. Und das auch noch so weit weg vom Rest des Instituts. Eben so wenig verstand sie, warum Herr Rupert 'Herr' genannt werden will. Und nicht 'Mister', wie jeder andere hier auch. Sie folgte dem breiten Kiesweg zurück zum Instituts und hing ihren
Gedanken nach.

Wieder brachte eine kühle Brise die hellblauen Vorhänge in Bewegung. Sie saß im Schneidersitz auf dem weißbezogenen Bett und dachte nach.
Eigentlich war sie ja tot. Hatte ihr zumindest Mister Smith gesagt. Doktor Smith. Und man hatte ihr gesagt, dass ihre Erinnerungen wieder zurückkommen würden. Waren sie aber nicht. Ihr früheres Leben war nicht mehr existent. Der Tag, an dem sie aufwachte, war für sie, der Tag ihrer Geburt. Kate zählte nach, wie alt sie demnach sein müsste. Zwei....zwei und halb Wochen. Ein Neugeborenes.
Ihr Gedankengang wurde durch das Quietschen einer Tür unterbrochen. Der Mann kam herein. Erst sah er sie überrascht an, dann schloss er die Tür hinter sich und lächelte warm. "Schön dich wieder zu sehen, Kind. Es ist schon lange her. Drei Wochen? Wie ist es dir ergangen? Hast du dich an das Institut gewöhnt?" Kate verzog leicht ihre Mundwinkel. Seine braunen Augen verwirrten sie. Nachdem er sie an dem Tag vom Büro von Doktor Smith wieder zurück gerollt hatte, hatten sie sich etwas unterhalten. Die ganze Zeit konnte sie seinen Blick spüren. " Zwei und halb Wochen. Es geht mir hier ganz gut. Ich bin umgeben von interessanten Leuten." Es schien, als würde sein Lächeln noch breiter und noch ein Ticken wärmer werden. Kate zog ihre Jacke aus, bevor sie anfing zu schwitzen. "Das freut mich sehr für dich." Dann schwiegen sie für eine Weile. Er sah ihr unbeirrbar in die Augen, während Kate den Blickkontakt vermied. Unangenehme Stille. Schließlich ergriff doch wieder Kate das Wort. "Ich hätte da eine Frage, Mister." "Immerzu, Kind. "
Kate setzte sich etwas aufrechter hin. "Als ich hier aufgewacht bin...befand sich noch eine andere Person außer ihnen in diesem Raum?" Er legte den Kopf schief. "Außer dir und mir? Nein, nicht das ich wüsste. Warum?" "Naja, als ich aufgewacht bin, haben sie gesagt: 'Sie ist wach'. Zu wem?" Ein amüsiertes Glitzern trat in die braunen Augen des Mannes. "Nein, mein Kind. Nur wir beide befanden uns in diesem Raum." Kate rief sich nochmal die Situation in Erinnerung. Kein Irrtum.
Er hatte gesagt, dass sie wach sei.
Er stand da, mit einem Block in der Hand und hat geredet...
"Und ihr Block? Den, den sie in der Hand hatten? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie einen Block bei sich hatten." Er verneinte auch diese Frage, und das stets, mit einem Lächeln auf den Lippen. Als wäre er glücklich, dass sie ihm Fragen stellte. Da hatte er auch sicher kein Problem, mit einer dritten Frage. "Ok, und noch was. Als wir bei Mi- Doktor Smith waren, meinte er, ich wäre ermordet worden. Aber war es kein U-" Er klatschte laut in die Hände. "Du hast aber viele Fragen, Kind. Ich würde sie wirklich gerne beantworten, aber leider habe ich noch zu tun. Tut mir sehr leid. Wir sehen uns bestimmt wieder. Auf Wiedersehen."
Der Mann öffnete schon die Tür, doch sie rief schnell: "Eines noch, Mister. Wie heißen sie eigentlich? Ich kenne ihren Namen nicht." Noch während er die Tür schloss, lachte er leise. "Du, Kind, kannst mich Samuel nennen. Einfach Samuel." Dann war er weg. "Komischer Mann", murmelte sie.

Es war ein Unfall.

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