9

20 3 2
                                    

Die Frau, die sie umarmt hatte, hieß Jessica und war allem Anschein nach Kates Mutter. Oder eher Robins Mutter, denn ihre wirkliche Mutter hatte Kate vergessen.

Kate seufzte. Mittlerweile wusste sie nicht mehr, wie sie sich selbst nennen sollte.

Im Laufe des Gesprächs hatte sich für sie ergeben, dass sie gerade im engen Kreis ihrer Familie stand. Doch bei Travis war sie sich nicht sicher.

Innerlich betete, dass Travis nur ein Bekannter war.

Ihre Mutter ergriff Kates Hand und sagte: "Ich wusste, dass mein Kind überlebt. Du würdest zurückkommen, sagte ich mir jeden Tag. Ich flehte den Herrn an, flehte um dein Wohl. Und nun bist du wieder zurück."

Holly, das ältere Mädchen und ihre jüngere Schwester, heulte nochmal einen Dezibel lauter auf und Charlotte, die 13-jährige, klammerte sich an David, oder auch Vater genannt und stierte auf die Mamorfliesen. Tom und Stuart, ihre Zwillingsbrüder wuselten aufgeregt um Kate herum und redeten ununterbrochen auf sie ein.

"Wo haben sie dich hin verschleppt?"

"Hast du auch die anderen Opfer gesehen?"

"Haben sie dir weh getan?"

"Wie bist du entkommen?"

"Haben sie dich gejagt?"

Kate machte sich nicht mal die Mühe zu antworten, nicht das sie eine Antwort gewusst hätte. Sie war anderweitig beschäftigt. David hatte sie angesprochen. "Mädchen." Kate nickte schwach. "Dir ist hoffentlich bewusst, dass du es nicht verhindern kannst." Kate überlief eine Gänsehaut und auch die Hand ihrer Mutter verkrampfte sich. "Liebling, ich habe dir doch schon-" Er unterbrach sie. "Es ist egal, wenn du wegläufst. Du wirst jedesmal zurückkommen, ob du willst oder nicht. Aber ich warne dich, wage es nicht noch einmal. Du wirst es bitter bereuen, dreckige Robin." Kein anderer hatte David gehört, niemand außer Kate, ihre Mutter und Charlotte.

Charlotte hatte ihren Blick erhoben und sah Kate an. Zum ersten Mal konnte man ihr Gesicht sehen und Kate war überrascht, als sich ein Gefühl des Wiederekennens einschaltete, das sich wie Säure einen Weg durch ihre Nerven in ihren Kopf bahnte.

Jessica fuhr David wütend über den Mund. "Liebling, reiß dich zusammen! Sie ist deine Tochter, verdammt! Also zügle deine Zunge!" Ihr Gesicht lief rot an und ihre Lippen waren verbissen angespannt. David sah sie von oben herab abfällig an, sagte aber nichts mehr.

Kate war verschreckt. Mit sowas hatte sie nicht gerechnet. Von ihm würde sie Abstand halten. Von ihm und Charlotte.

William, die Majestät, schickte sie weg, da er noch wichtiges zu tun habe und forderte sie morgen auf, wieder zu kommen.

Die andere ältere Frau, von der Kate ausging, dass sie die Schwester von Jessica war,  blieb stumm und mit gefalteten Händen neben dem Thron stehen und sah ihnen hinterher.

Vor dem Palast holte sie eine altmodische Kutsche ab und kutschierte sie die nächste dreiviertel Stunde durch den abgeschwächten Nieselregen. Sie fuhren an riesigen Villen und herrschaftliche Residenzen vorbei, aber auch an kleinere, schäbige Gebäude, in denen ärmlich gekleidete Menschen ein und aus gingen. Es schien, als müsste sich der Kutscher durch die Menschenmasse prügeln. Die Straßen waren voll, die Menschen laut, dreckig und stinkend.

Kate starrte fasziniert aus dem Fenster und sah einem Jungen hinterher, der einer fetten Frau ihr Portemonaie aus der Handtasche gezogen hatte. In gebückter Haltung schlich er sich durch die Mengen und vermied Augenkontakt und irgendwann verlor Kate seine straßenköterblonden aus den Augen. Dann bat Jessica Kate, das Fenster zu schließen, da es zog.

Die unebenen, geplasterten Straßen gingen über in noch unebenere Landstraßen und sie fuhren durch einen dichten Wald. Auch hier hatte der Mensch seine Spuren hinterlassen. Vereinzelte Jagdhütten standen hier und da hinter großen Gebüschen. Irgendwann verließen sie den Wald wieder und die Sonne wagte sich wieder hervor.

Und dann waren sie angekommen. Ein riesieges Sonnenblumenfeld und dahinter ein gewaltiges Anwesen. Wahrscheinlich ihres.

Bevor sie das Anwesen betreten konnten, dauerte es noch ein wenig. Der Vorhof war groß, sehr groß. Er war ein gigantischer, sauber angelegter Park. Jede einzelne Blume und jedes andere Gewächs hatte einen bestimmten Platz.Gelegentlich standen ein paar Bänke unter Bäumen, die angenehm Schatten spendeten. Alles in allem ein sehr schöner Vorhof.

Um vier Uhr nachmittags saßen sie alle zu einem verspäteten Mittagessen beisamen. Eine junge Frau hüpfte aufgeregt in den Essraum und ihre roten, hüftlangen Zöpfe hüpften freudig mit. Ihr sommersprossiges Gesicht strahlte wie eine zweite Sonne. "Miss Robin, Miss Robin, Miss Robin!" Und ohne Scheu presste sie Kate fest an ihre Brust. "Ohhh, wie ich doch wusste, dass sie zurück kommen werden. Sie sind eine wahre Kämpferin, Miss Robin! Ich bewundere sie so sehr! Sie sind wieder zurück!" Jessica lachte leise und löste den Rotschopf vorsichtig von Kate. "Überfordere sie nicht, Katlyn. Würdest du uns bitte einen Tee machen?" Katlyn nickte aufgedreht und hüpfte wieder aus dem Raum und brachte zehn Minuten darauf auf einem großen Tablet den Tee.

Tee zum Mittagessen war Kate zwar nicht gewohnt, aber glücklicherweise wurde gleich danach ein deftiger Eintopf herein getragen, an dem man sie sich satt essen konnten. Nach der Mahlzeit saßen sie in gemütlicher Eintracht zusammen und viele der Bediensteten, darunter Katlyn, machten es sich bei der Familie gemütlich, schwätzen und lachten angeregt mit.

Bis in die späten Abenstunden verbrachten sie ihre Zeit gemeinsam. Es war bereits um die elf Uhr, als Jessica ihre Kinder schmunzelnd ins Bett schickte. "Ihr kippt mir noch um."

Kate begleitete sie bis in ihr Zimmer. Eigentlich überließ Kate Jessica die Führung, denn sie wusste beim besten Willen nicht wo lang. Ihre Mutter öffntete eine von vielen Türen und zündete mit einem Streichholz eine Kerze an. Der Raum badete im sanften Licht und einige grobe Details waren schwach zu erkennen, zum Beispiel wo das Bett stand. Jessica half Kate beim Umziehen, trug sie halb ins Bett und legte ihr die wärmende Decke über. 

Während Kate langsam die Augen zufielen, sah sie noch, wie ihre Mutter sich über sie beugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. "Schlaf schön, Robin. Und denk dran, ich beschütze dich, komme was wolle." Dann nickte Kate weg.

Jessica drückte die Kerze aus und verließ den Raum.

Im letzten Moment betrachtete sie noch einmal wehmütig Kates schlafendes Gesicht und zog dann leise die Tür hinter sich zu.



Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 06, 2018 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

0Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt