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Schon ein, zwei Stunden später hatte Kate den geheimnisvollen Samuel weitgehend verdrängt und beschäftigte sich mit anderen Dingen. Wie zum Beispiel mit der Tatsache, dass eine Faust auf ihr Gesicht zuhielt und ganz klar die Absicht hegte, ihr weh zu tun. Instinktiv duckte sie sich und wurde mit einem Tritt gegen das Schienbein belohnt. „Unaufmerksam, Kate", meinte Mr Aggarwal und sah sie mit seinen schmalen Augen missbilligend an. Kate kniete am Hallenboden und rieb sich über das pochende Bein. „Schmerzhaft, Mister Aggarwal." „Beschwer dich nicht, Katie! Er hat dir die letzten fünf Male schon gesagt, dass es dir nicht viel nützt, sich nur zu ducken. Du musst auf seine Füße achten und unter Umständen auch zurückweichen!", lachte Helena Thompson, eine Freundin von Kate. Helena reichte ihr die Hand, welche sie aber ausschlug und sich selber aufrappelte. „Geht schon." Mr Aggarwal seufzte leise und rief ohne großen Aufstand den nächsten Schüler auf die Matte. Helena und Kate setzten sich zu ihren Klassenkameraden, darunter auch George Sawyer und Rodrigo Javier López Sanchéz (kurz Señor Rodrigo), an die Wand. „Kate, du bist wirklich eine wahre Kämpfernatur. Du versetzt mich wahrlich jedes Mal aufs Neue ins Staunen", spöttelte George. Helena lachte kurz auf und verpasste George daraufhin einen sanften Nackenklatscher. „Sei nicht so fies zu ihr, George! Sie kann doch nichts dafür." Kate murrte leise und rutschte beleidigt weg von den beiden. Rodrigo legte ihr beruhigend einen Arm um die Schulter. „Keine Sorge, Katie. Ist nicht schlimm, dass du im Kämpfen nicht gut bist. Kämpfen heißt immer Schmerz und Leid und von dem braucht man nicht mehr auf der Welt." „Hör doch auf so zu schmalzen. Ich weiß doch, was für ein Fan du von Kampfsportarten du bist, Señor. Tu nicht so", sagte Kate verschnupft. Rodrigo lachte prustend. „Sorry, Kate, aber du stellst dich auch selten dämlich an. Ist das Absicht?" Aufgebracht warf sie die Hände in die Luft. „Nein, meine lieben Freunde, ich bin nicht mit Absicht unfähig! Nicht mit Absicht lasse ich mich grün und blau schlagen, damit ihr mich danach auslachen könnt, weil ich das ja so gern habe. Nein, ich mache das nicht mit Absicht! Wozu brauchen wir untoten Schüler überhaupt verdammten Kampfsportunterricht? Meine Güte!" Bevor Rodrigo antworten konnte, warf George lautstark ein: „Mr Smith meinte ausdrücklich, dass wir nicht untot sind. Also keine Art von Zombie oder Vampir oder so ein Schwachsinn. Also sag das gefälligst auch nicht mehr. Sowieso fühle ich mich gar nicht wirklich...tot." „Tja, bist du aber. Komm damit klar." George warf Kate einen wütenden Blick zu. „Weißt du, Katie, für uns ist das alles viel schlimmer. Wir haben eine Vergangenheit in der normalen Welt gehabt, die uns etwas bedeutet, die uns wichtig ist. Wir vermissen unsere Familie, unsere alten Freunde. Wir erinnern uns. Ganz im Gegensatz zu dir. Dir ist deine Familie anscheinend nicht wertvoll genug. Anscheinend hat sie ein Platz in deinen Erinnerungen nicht verdient. All die Menschen deiner Vergangenheit hast du komplett ausradiert. Du kannst also gar nicht verstehen, wie wir uns fühlen, Katie." Helena rutschte unangenehm berührt hin und her und Rodrigo wandte den Blick ab. Nur Kate und George starrten sich an. George hatte Recht, ihr Gehirn hatte ihre Vergangenheit komplett ausradiert. Aber nicht weil es ihre verdammte Absicht war. Nicht, weil sie es wollte. In ihr wellte das Verlangen auf, George einen deftigen Schlag zu verpassen. Schon witzig, wie schnell die Stimmung gekippt war. Sie ballte ihre Hand zu einer Faust und atmete laut ein und aus. Dann sah sie entschieden weg und unterhielt sich mit Rodrigo. In den nächsten 15 Minuten herrschte eine gewisse Spannung zwischen den beiden und Auflockerungsversuche von Helena oder Rodrigo scheiterten. Mr Aggarwal unterbrach schließlich das erzwungen fröhliche Gespräch, das sie mit Rodrigo führte. „Klasse 1a, b und c zu mir!", donnerte er. Während die Adepten zu ihm schlenderten, tuschelten manche. Was er wohl von ihnen wollte? Gab es Beurteilungen für ihre Kampfleistungen? Langsam bildeten sich mehrere Reihen vor Mr Aggarwal. „Ruhe! Seid leise und hört mir zu. Ihr werdet jetzt die Halle verlassen und euch auf den Weg zum Lehrgebäude machen. Im Klassenzimmer der 1b werdet ihr von Mr Smith, Mr Daves und anderen Tutoren empfangen. Die werden euch aufklären. Fragen?" Ein Junge, der in der hintersten Reihe stand, rief rein: „Wir werden aufgeklärt? Über was?" Mr Aggarwal runzelte die Stirn. „Über was denn wohl? Was für eine nennenswerte Frage, außer dem Grund euer Existenz, kann es denn hier geben?"

Die aufgeregte Meute der Adepten strömte laut schnatternd in Scharen auf dem Weg zum Lehrgebäude und Zentrum des Instituts. Kate hatte sich von den anderen abgekapselt und ließ sich von der Menge tragen. Der Grund ihrer Existenz. Eigentlich hatte ihr Herr Rupert das Grobe schon erklärt. Aber wieso es sie gab...Vermutlich waren sie Ergebnisse irgendeines misslungenen Experiments von einem ganz schlauen Typen. Oder sie waren Teil irgendeiner lächerlichen Verschwörungstheorie. Es gab ja noch nicht genug. Oder vielleicht waren sie auch Teil irgendeiner abgedrehten Fantasiewelt. Bei dieser Vorstellung schlug ihr Herz ein wenig schneller. Sie waren Abgesandte des Feenreichs und hatten eine wichtige Mission von der Feenkönigin höchstpersönlich erhalten. Rettet die Menschheit oder so was.

Schön wär's.

Schneller als geglaubt erreichten die Adepten das Lehrgebäude uns auch kurz darauf das Klassenzimmer. Klassenzimmer...Da werden wir schon Adepten und die Lehrer Tutoren genannt und haben statt einem Hörsaal ein Klassenzimmer. Ist ja fast schon peinlich, dachte sich Kate. Als sie den Raum betrat fiel ihr Blick zuerst auf Dr Smith, in seiner ganzen Lächerlichkeit. Er schien eine bedeutende Autoritätsperson zu sein, das war ihr klar, aber naja. Autorität hatte Kate unter einem anderen Bild abgespeichert. Neben ihm standen einige ihr unbekannte Tutoren und auch eine herausstechende Tutorin. Wasserblondes Haar und himmelblau Augen. Sie war zwar dezent geschminkt, hatte aber eine starke Ausstrahlung.

Anscheinend hatte Kate die Frau zu lang angestarrt, denn auf einmal stierte sie zurück und lächelte fragend. Kate sah schnell weg und setzte sich auf ihren Platz. Natürlich ganz hinten in einer Ecke. Und neben ihr pflanzte sich Helena hin und warf ihr einen besorgten Blick zu. „Wo warst du denn Katie? Wir haben Ausschau nach dir gehalten. George hat gemeint, es tue ihm leid. Er wollte dich nicht kränken. Es ist ihm einfach so heraus gerutscht. Es ist ihm klar geworden, dass du es viel schlimmer haben musst. Immerhin bist du in deinem Kopf quasi ganz alleine. Verzeihst du ihm? Bitte." Eine Antwort blieb Kate freundlicherweise erspart. Dr Smith ergriff das Wort, nachdem sich alle Adepten hingesetzt hatten, sei es auf Stuhl, Tisch oder Boden. „Meine Damen und Herren. Da sind sie nun. Ich freue mich ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir die letzte Null eurer Klassenstufe letzte Woche hier begrüßen durften. Das heißt, sie alle werden jetzt aufgeklärt. Aufgeklärt, warum sie das sind, was sie sind." Kate stöhnte innerlich. Warum er sich nicht kurz fassen konnte, war ihr ein Rätsel. „Emily, ich übergebe an dich." Die blonde Frau trat vor. „Darf ich mich vorstellen, ich heiße Emily Serbon. Normalerweise arbeite ich in der Verwaltung des Instituts, doch heute bin ich extra hier, um euch aufklären zu können." Einige Schüler, die ebenfalls ungeduldig wurden, fingen an zu murren und tuscheln. Ms Serbon fuhr fort. „Ihr, die Nuller, seid nur aus einem einzigen Grund hier. Nur ein Grund, der jedoch stark genug war, euch am Leben zu erhalten. Ihr seid hier, um eure Mission zu erfüllen."

Kates rechte Augenbraue wanderte nach oben.

0Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt