Too Many Doors online

Gefangen in Pixeln

So wie Elisa das belegte Brot in sich hinein schlang, erinnerte sie mich etwas an Finn. Es gab Tage, an denen er fast nichts aß und es gab welche, an denen er gelegentlich unseren Kühlschrank plünderte. Wir saßen zusammen auf einer Bank, mitten auf dem großen schönen Marktplatz und aßen gemeinsam. Straßenlaternen ließen die Stadt in einem schönen orange erstrahlen und es roch nach Sommerluft, Blumen und belegten Broten - herrlich, wäre da nur nicht der Hintergedanke, dass meine Mutter grade vor Wut kochte, weil ich sie angelogen hatte. Er brannte sich in meinen Kopf und wurde immer unerträglicher. Aber jetzt war es ohnehin schon zu spät, meine Mutter war wahrscheinlich schon längst in meinem Zimmer gewesen. Obwohl, ich hatte es ja abgeschlossen. Bestimmt machte sie sich Sorgen um mich. Während ich nachdachte, hatte ich das Brot neben mich gelegt und meine Ellenbogen auf meine Knie gestürzt.
"Sue?", schmatzte Elisa.
"Ja?"
"Sag mal, isst du das noch?"
Ich drehte mich zu ihr, sie zeigte auf mein angebissenes Brot.
"Ne, nimm es ruhig, mir ist der Hunger vergangenen."
Verwirrt schaute sie mich an. Wahrscheinlich fragte sie sich grade ob so etwas überhaupt möglich war. Dann zuckte sie mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf das Essen. Ich stand auf, auch wenn ich es nicht wollte, ich musste nun gehen.
"Okay, Elisa, ich muss jetzt echt los."
Kauend stand sie auch auf.
"Wann sehen wir uns wieder?"
"Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich morgen, in sofern meine Mutter nicht vollkommen ausgerastet ist, und mir das erlaubt."
"Ja, hoffen wir das mal."
"Okay, bis dann."
"Bis dann."
"Open Menü.", sagte ich. Es öffnete sich und ich drückte auf Spiel verlassen, doch nichts geschah. Ich tippte es erneut an - wieder nichts. Ich schloss meine Augen und wartete einige Sekunden.
"Sue, was machst du da?", fragte Elisa irritiert.
"Das letzte Mal hat es doch funktioniert...", murmelte ich vor mich hin.
"Was hat funktioniert?"
"Das ausloggen. Ich komm nicht aus dem Spiel heraus."
"Was? Warum nicht?"
"Woher soll ich das denn wissen?"
"Lass mich mal schauen."
Sie stellte sich neben mich und hämmerte zuerst nur leicht und dann immer fester auf dem Schriftzug Spiel verlassen herum.
"Wieso funktioniert dieser scheiß denn nicht?", fluchte sie, " frag doch mal diesen komischen Smiley."
Ich tippte das Hilfesymbol an und er erschien vor mir.
"Stell mir eine Frage.", sagte die monotone Männerstimme.
"Warum kann ich das Spiel nicht verlassen?"
"Um das Spiel zu verlassen, drücken Sie im Menü auf Spiel verlassen."
"Und was ist, wenn das nicht funktioniert?"
"Fehler des Systems sind vollkommen ausgeschlossen."
"Anscheinend nicht!"
"Stell mir eine Frage."
Langsam braute sich ein Chaos in mir zusammen - eine Mischung aus Wut und Verzweiflung.
"Warum komme ich hier nicht mehr heraus?!", schrie ich ihn an und Elisa zuckte zusammen, als sich meine Stimme dermaßen erhob.
"Um das Spiel zu verlassen, drücken Sie im Menü auf Spiel verlassen."
Jetzt reichte es mir. Alles andere wäre hilfreicher gewesen, als diese bescheuerte Hilfefunktion. Ich starrte auf den Boden. Das musste ein Fehler sein.
"Elisa, schau mal, ob du dich ausloggen kannst."
"Okay. Open Menü."
Ihr Menü öffnete sich, sie tippte auf Spiel verlassen und innerhalb von wenigen Sekunden waren ihre Pixel zersprungen und hatten sich aufgelöst - sie war weg. Langsam ließ ich mich wieder auf die Bank sinken. Was sollte ich denn jetzt tun? Liebend gerne hätte ich diesen Moment lernend vor meinen Hausaufgaben verbracht, aber ich musste ja unbedingt TMDO spielen. Verzweiflung, Einsamkeit und Wut kratzten an mir und zerrten mich herunter. Ich atmete tief durch und sah in den Himmel - tausende leuchtende Sterne schauten auf mich herunter. Es waren viel mehr als im echten Leben und man konnte sogar fern gelegene Planeten erkennen. Nicht die, die man aus dem Naturwissenschaftsunterricht kennt. Nein. Diese hier waren viel bunter und einfach schöner - sie hatten mehr Ringe und Muster. Ob man da wohl irgendwie hoch kam?
Ruhig stand ich auf, ohne meinen Blick vom Sternenhimmel zu wenden. Ich nahm meine  Nerven zusammen und versuchte es noch ein letztes Mal, doch es half nichts. Während mir so langsam der Ernst dieser Lage klar wurde, brannten in mir nun endgültig alle Sicherungen durch. Gefangen - wie ein Vogel in dieser "zweiten Realität", keine Kontrolle mehr über den eigentlichen Körper, Teil eines virtuellen Spieles. All dies beschrieb es relativ gut. Woher wusste ich überhaupt noch dass ich existierte, wenn ich nun nur noch aus Pixeln bestand? Mein Kopf war kurz davor zu explodieren, als mir endlich eine Idee kam - ein kleiner Lichtblick. Vielleicht konnte mir Curtis weiter helfen, bis auf Elisa war er der einzige, den ich hier kannte. In Gedanken versunken und durchlöchert von meinen eigenen unbeantworteten Fragen rannte ich in Richtung des kleinen Hauses, in welchem Elisa und ich an dem Kurs teilgenommen hatten. Hoffentlich hatten sie noch nicht geschlossen. Ich beeilte mich so sehr, dass ich wahrscheinlich sogar den Schulrekord im Sprinten geschlagen hätte. Das kleine Haus war schon in Sichtweite, als ich plötzlich von irgend etwas ausgebremst wurde, oder besser irgend jemandem. Ein Junge, welcher mir grade unglücklicherweise über den Weg lief, wurde von mir überrumpelt und mit nach unten gerissen.
"Oh Entschuldigung.", keuchte ich atemlos.
"Pass doch auf wo du hinrennst!"
Kopfschüttelnd stand ich wieder auf, strich mir den Rock zurecht und ließ ihn auf dem Boden zurück. Ich hatte jetzt keine Zeit.
"Na vielen dank auch.", murmelte er entgeistert.
Es reichte. Ich hatte  keine Schuld an dem Zusammenstoß. Ist ja nicht mein Problem wenn er da so doof herumsteht. Doch ich drehte mich wieder um und schaute ihm genervt ins Gesicht. Seine braunen Augen funkelten mich, durch seine auf der Stirn hängenden dunklen Haare, böse an.
"Es tut mir doch leid, aber ich muss schnell weiter."
"Und lässt mich hier liegen?", rief er.

Ich streckte ihm meine Hand entgegen und er ergriff sie. Seine Haut war warm und schwitzig - war er wohl grade auch im Stress? Kaum stand er wieder aufrecht, ließ ich ihn los und rannte weiter.