Im Zug (1)

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"Jessy, hast du auch alles eingepackt?", fragte Charlie mich aufgeregt von der anderen Seite des Telefons. "Ja Charles, zum hundertsten mal ich hab alles!" ich konnte praktisch sehen, dass sie sofort mit den Augen rollte, ich kannte sie einfach viel zu gut.

"Ich hasse es, wenn du mich so nennst. Als wär ich ein Mann" "Das bist du ja zum Glück nicht", grinste ich und warf mich im nächsten Moment mit Schmackes auf meinen mehr als vollen Koffer und machte ihn zu. "Koffer packen, check", sagte ich. "Supi, ich bin in zehn Minuten da", flötete es aus dem Hörer und dann knackte es.

Ich schmiss das Telefon aufs Bett und setzte mich daneben. Warum hatte ich überhaupt ja gesagt? Ich ließ mich immer viel zu leicht umstimmen, ich konnte einfach nie nein sagen, zumindest nicht zu meiner besten Freundin.

Aber dieses Mal könnte ich mir dafür selber eine klatschen. Ich mochte diese typischen Boybands einfach nicht, ich konnte mich eher mit Solostimmen wie Katy Perry oder Bruno Mars identifizieren.

Charlie hatte zwar Recht, dass ich mir noch keines ihrer Lieder angehört hatte, aber das brauchte ich meiner Meinung nach auch nicht tun, es klangen eh alle gleich. Pure Zeitverschwendung.

Und mir das heute Abend zwei Stunden lang anzutun, erschien mir wenig sinnvoll. Aber was tat man nicht alles für seine beste Freundin. Sie war regelrecht besessen von One Direction. Sie hörte nur deren Musik und ihr ganzes Zimmer hing voller Poster mit den Gesichtern von Harry und Co, sodass Charlie seitdem immer zu mir kommen musste, weil ich es in ihrem Zimmer einfach nicht lange aushielt.

Sie wusste alles über diese fünf Jungs. Und wenn ich alles sage, dann meinte ich auch alles. Und ständig musste sie mir das alles auch immer schön erzählen. Ihr absoluter Liebling war Zayn. Sie kannte jedes Tattoo von ihm egal welche Stelle und welches Motiv. Krank, kann ich nur immer wieder sagen. Aber was sollte ich machen?

Meine weiteren Gedanken unterbrach das Klingeln unserer Haustür, also stand ich auf und schleppte meinen Koffer nach unten in unseren schmalen Flur. Dabei machte ich einen Abstecher in die Küche,  um mir mein Essen für die Fahrt unter die Arme zu stopfen und öffnete schließlich die Tür.

Vor mir stand Charlies Vater, der mich sofort herzlich anlächelte und mir bereitwillig den Koffer abnahm. Ich rief noch ein 'Tschüß, bis Sonntag!' durchs Haus, das von meinem Vater und meiner Grandma zurückkam.

Mehr Familie hatte ich nicht. Der Rest davon lebte in Deutschland und dieser Rest war meine Mutter. Meine Eltern lebten seit 6 Jahren getrennt und meine Grandma kam mit uns nach England, wo mein Vater eigentlich herkam.

Ich wollte in diesem Moment nicht über den Grund der Scheidung nachdenken, da er viel zu schmerzhaft für mich war. Wie oft hatte ich nachts an meinem Fenster gesessen und mir genau deswegen die Augen aus dem Kopf geheult.

Also schob ich diese Gedanken erstmal beiseite und kletterte hinten zu Charlie ins Auto, während ihr Vater meine Sachen im Kofferraum verstaute, wobei er ständig stöhnte und sich beschwerte warum Mädchen immer so viel Gepäck dabei hatten.

Charlie und ich grinsten uns nur an und sie zwinkerte mir zu.

Während der Fahrt kaute Charlie die ganze Zeit an ihren Fingernägeln und fuhr sich ständig nervös durch ihre perfekt frisierten Locken. Genervt und zum Teil auch amüsiert steckte ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und hörte den Rest der Fahrt Musik.

"Danke fürs Fahren, Dad", sagte Charlie noch und dann verschwand das Auto von ihrem Vater in der Ferne. "Wann fährt der Zug?", fragte ich und griff nach dem Henkel meines Koffers. "In einer Viertelstunde. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch ein freies Abteil erwischen wollen", antwortete Charlie und griff ebensfalls nach ihrem Koffer. "Gut dann los"

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