2. Totenstille

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Und dann war der Moment vorbei.

Es sagte zwar immer noch niemand etwas in Susan Clarks Kopf, doch ihre eigenen Gedanken waren erneut aufgewühlt.

»Ruhig atmen«, flüsterte sie, biss sich auf die Unterlippe, hieß den Schmerz willkommen und versuchte krampfhaft den Blick auf der Straße gerichtet zu lassen. Sie vermied es, der davontreibenden Rose weiter nachzuschauen. Es war wie jeden Abend.

Erster Atemzug, Augen schließen. Zweiter Atemzug, Dunkelheit genießen. Dritter Atemzug, die Erinnerungen kamen wieder hoch. Ein weiteres Mal sah sie das Mädchen in die Alster fallen. Vierter Atemzug, das Mädchen war fort. Vor ihr sah sie den Bruder. Fünfter Atemzug, erneute Dunkelheit.

Der sechste blieb aus.

Pause. Schweigen. Totenstille.

Innehalten. Erinnern.

Du bist schuld! Der Bruder.

Ich bin tot – wegen dir! Das Mädchen.

Susan Clark schluckte das Gefühl aufkommender Tränen hinunter.

Siebter Atemzug. Sie rang nach Luft.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie erneut. Die Autorin hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie es jetzt schon gesagt hatte Es ergab auch keinen Sinn mehr. Es war zu spät.

Sie blieb noch einige Sekunden unbeweglich stehen und begann dann zu laufen.

Lauf, ja lauf, lauf nur deinem eigenen Schicksal davon, versuch' es, aber der Herrgott wird dich holen, wird dich strafen. Du wirst im Fegefeuer brennen und nach Vergebung schreien, doch wirst du sie niemals erhalten, denn du hast auch keine Vergebung gewährt Du bist ein Mörder – und Mörder fliehen!, schrie der Pastor in ihrem Kopf und klang dabei gar nicht wie der sonst so ruhige und bedachte Mann Gottes. Er schien seine Meinung über sie geändert zu haben Ein kalter Schauer lief der Autorin über den Rücken. Sie hatte gehofft, ihr wäre noch einige weitere Minuten der Ruhe nach ihrem abendlichen Ritual gegönnt, aber sie hatte sich wohl geirrt. Susan Clark war jedes Mal wieder erschreckt davon, wie der Pastor seine ruhige Maske ablegen konnte und sie ohne Vorwarnung zusammenstauchte.

Meistens half es ihr ein wenig, die Kontrolle zu behalten, wenn sie sich auf die Straße vor ihr konzentrierte, wenn sich ihr Blick in den grauen Details des Beton verlor, doch auch dies war ihr an diesem Abend nicht gegönnt. Ihr seid nicht real, ihr seid nur in meinem Kopf, ihr seid nicht Wirklichkeit. Immer wieder ratterte sie diese Worte hinunter und versuchte so gut es ging, Klarheit zu bekommen. Sie dachte ans springen. Sie spürte schon, wie das kalte Wasser über ihr zusammenschlug, wie sie langsam die Luft aus ihren Lungen weichen ließ. Susan Clark sah, wie die Blasen in dem trüben See aufstiegen und in dem fahlen Licht beinahe gespenstisch wirkten. Dann atmete sie wieder ein, fühlte das kühle Elbwasser, wie es ihre Brust ausfüllte. Und dann, dann wurde alles dunkel und ruhig. Und zusammen mit den sterbenden Geräuschen starb auch sie.

Aufwachen, meine Liebe, hörte Susan Clark die beinahe fürsorgliche Stimme des Mörders. So einfach ist es leider nicht. Noch ist deine Zeit nicht vorbei, noch weilst du hier auf der Erde. Denn jetzt wirst du noch nichts Dummes tun. Noch hält es dich hier fest, Clark.

Ihr Atem ging röchelnd. Wie, als wenn der letzte Rest des Wassers noch immer an ihren Bronchien hing.

Du stellst das falsch dar. Du bist niemals gesprungen, du hast niemals das Wasser eingeatmet.

Die Autorin nickte nur schwach und der Asphalt verschwamm in dem fahlen Licht der Straßenlaternen zu einer undurchdringlichen, grauen Masse. Ihre Schritte gaben ein seltsam dumpfes Knirschen von sich. Niemand war zu sehen. Susan Clark war vollkommen alleine. Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, wie es sich anfühlt ganz alleine zu sein!, ertönte der Hohn des Bruders. Ganz alleine.

Seelenblut *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt