6. Wimpernschlag

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Als der Applaus am Ende des Konzertes verebbte und die Vorhänge sich langsam wieder zuzogen breitete sich ein wohliges Gefühl in ihr aus. Es war geschafft. Sie hatte es ein weiteres Mal gemeistert

Erleichtert packte die junge Künstlerin ihre Violine in den Kasten und atmete einmal tief durch. Wie jedes Mal nach einem Auftritt überkam sie eine sonderbare Melancholie als sie über das glatte, dunkle Holz des Geigenkoffers strich, welches sich in ihren Finger so weich und bekannt anfühlte.

Sie umfasste den Griff an der Längsseite, verabschiedete sich routiniert nickend von ihrem Orchester und ging schnellen Schrittes von der Bühne. Sie lief schon fast, als sie den langen Gang mit den einzelnen Kabinen und Zimmern im Backstage Bereich erreichte. Als sie an der Tür mit ihrem Namen vorbeikam, hielt die junge Violinistin an, riss die Tür schwungvoll auf, stellte den Geigenkasten in eine Ecke und ließ sich schwungvoll auf das Sofa fallen.

Es ist geschafft, dachte sie erneut und legte den Kopf in den Nacken. Erschöpft schloss sie die Augen und begann, sich bewusst auf ihre Atmung zu konzentrieren. Langsam bemerkte sie, wie das Adrenalin versankt, dass in Wallung gebrachte Blut sich wieder beruhigte und sich eine tiefe Ruhe und Müdigkeit in ihr ausbreitete. Aber dann hörte sie Schritte, die sie aus ihrer Meditation rissen. Die Augen wieder geöffnet, erkannte sie, dass ihre Eltern aus dem Nebenraum gekommen waren. Wollte Großvater nicht auch heute kommen? In Gedanken schüttelte sie verwundert den Kopf. Er kann auch nicht immer kommen, du bist alt genug.

»Das Konzert war spitzenmäßig, Große!« Mit breit gezogenem Mund kam ihre Mutter auf sie zu, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen.

Amélie Rion stand auf. »Danke, Maman«, sagte sie und umarmte ihre Mutter zart. Es war eine kühle, anständige Umarmung, immer darauf bedacht, ihre damenhaften Manieren einzuhalten.

»Magnifique, ma fille. Du hast wirklich großartig gespielt heute!«, sagte sein Vater und senkte einmal anstandsvoll den Kopf. Doch auch seine Bewegung hatte etwas trauerndes beiwohnend.

»Merci, mon père. Doch erzählt, was ist los?«, antwortete die junge Künstlerin und schaute zwischen ihren Eltern hin und her. »Haben wir für London eine Absage bekommen?« Sorge legte sich in ihren Blick.

»Es tut uns so leid«, fing ihr Vater leise an und schaute hilfesuchend zu seiner Frau hinüber.

»Schade, ich hätte so gerne in London gespielt, aber wir werden schon noch ein weiteres Mal die Zusage bekommen, außerdem darf ich ja in Dublin und Paris spielen und –«

»Tais-toi!«, unterbrach ihr Vater sie mit schneidender Stimme und brachte sie zum Schweigen. Dann fuhr er ruhig fort. »Dein Großvater konnte leider nicht kommen, er ist heute Morgen verstorben. Wir wollten es dir nur erst hinterher sagen, damit du konzentriert bist, wenn du auf der Bühne stehst. Wir wissen, was er dir bedeutet hat!« Der französische Akzent war nach all den Jahren immer noch deutlich in seiner Stimme zu hören.

London zerplatzte als Erstes, danach folgten Dublin und Paris. Einen Scheiß wisst ihr. Einen verdammten Scheißdreck. Für einen Moment vergaß sie ihre guten Umgangsformen, die sie selbst in Gedanken pflegte. Eine seltsame Leere füllte Amélie Rion aus, eine Leere, die sie mit keinen Worten beschreiben konnte. Langsam setzte sie sich zurück auf die Couch, in der Befürchtung, sie könnte das Bewusstsein verlieren, doch dieser Gefallen wurde ihr nicht getan. Alle Anstrengung war von ihren jungen Zügen verschwunden und eine Müdigkeit lag in ihrem Blick, die das kastanienbraun ihrer Augen in ein stumpfes Grau verwandelte.

Sie spürte nichts, fühlte nichts. Das Hochgefühl, wenn der Applaus kam, war verschwunden. Die cremefarbenen Wände des kleinen Zimmers waren nicht mehr hell und freundlich sondern engten sie ein. Raus!

Ohne ein Wort, ohne jegliche Reaktion auf die Information von ihrem Vater, verließ sie benebelt und betäubt den Raum. Monoton ging sie den Gang hinunter, ignorierte die Menschen, die ihr begegneten und ihr die besten Wünsche mitgaben. Eine weitere Tür passierte sie, dann wurden ihre Schritte schneller und schneller, bis sie irgendwann rennend ihren Weg aus dem Opernhaus fand. Unbemerkt bahnte sie sich ihren Weg durch die nach draußen strömenden Menschenmassen.

Erst jetzt bröckelte langsam ihre starre Maske ab und ließ die aufgestauten Tränen fließen. Amélie Rions Blick verschwamm und ein salziger Geschmack bildete sich auf ihren Lippen.

Aber der Nebel blieb, der sie einhüllte. Sie blieb stehen, schaute sich um, doch konnte sie unter der Tränenwand nur wage Schemen erkennen. Trotzdem versuchte sie weiter ihren Weg zu finden

Zu spät bemerkte die halbe Französin, dass eine junge Frau direkt vor ihr stehenblieb, mitten in der Bewegung. Amélie konnte in ihrer Hektik nicht anhalten und sah die Frau zu spät. Stolpernd fiel sie in sie hinein.

»T-tut mir leid«, stammelte sie, während sich Amélie Rion wieder an ihre Erziehung erinnerte und sich gerade vor die andere Frau stellte, die sie trotz allem noch um gute zehn Zentimeter überragte.

»Was ist los mit dir?«, fragte die hagere Gestalt mit den Korkenzieherlocken und den scharf hervorstechenden Wangenknochen. Ihre Stimme war tonlos und uninteressiert. Die Violinistin sah, wie sich ihr Blick senkte, dann ein Rucken über ihre Züge ging und sich wie auf einen Schlag Mitgefühl in ihren Blick legte. Die Künstlerin schluchzte erneut vor Trauer auf und versuchte gar nicht erst die aufkommenden Erinnerungen von ihrem Großvater zu verbergen.

»Warum weinst du?«, fragte ihr Gegenüber nun und sah ihr aus großen Augen an. Ihre ganze Haltung strahlte eine Wille zum Helfen aus. Wer war sie?, fragte sich die Französin.

»Es ist nichts«, war alles, was sie antwortete, während sie hart schluckte und sich immer wieder nach ihren Eltern ausschauend umguckte.

»Es ist gar nichts okay. Ich sehe es dir doch an. Mit mir kannst du reden!«

Ein seltsames Charisma ging von dieser Frau aus, das Amélie dazu verleitete ohne Vorwarnung drauflos zu schluchzen. Angefangen bei der ersten Erinnerung an ihren Großvater, über ihren ersten Bühnenauftritt, die vielen Stunden bei Proben. Sie schüttete ihr gesamten Herz vor der Fremden aus, erzählte Dinge, die nicht einmal ihre Eltern kannte, während sich um die beiden herum der Platz langsam leerte. Von Madame und Monsieur Rion fehlte allerdings jede Spur.

Die junge Künstlerin erzählte und erzählte bis ihre Stimme langsam heiser wurde. Die hagere Frau hörte zu ohne ein einziges Mal auch nur mit der Wimper zu zucken, ihr Gesicht war erstarrt. Doch brauchte man nicht zweimal hinschauen um zu realisieren dass sie sehr wohl den Erzählungen gebannt lauschte.

Seelenblut *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt