Zitternd saß Fabian Winter auf den harten, ungemütlichen Steinen des Watzmann Gipfels. Die eine der beiden Frauen hatte sich schräg neben ihm hingehockt, immer darauf bedacht, dass ihre neue Wanderhose nicht im Dreck landen würde. Die andere hingegen saß dem ehemaligen Studenten direkt gegenüber, die Knie locker ans Kinn gezogen und wartete ohne ihren Blick von dem Mann zu nehmen.
Schweigen herrschte. Fabian Winter war heiß und kalt zugleich. Die anfängliche Ruhe hatte sich in Wut und Zorn verwandelt und nur mit Mühe und Not konnte er sich beherrschen. Dabei war er sich gar nicht sicher, ob er sich überhaupt beherrschen wollte. Er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt, seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Fingernägel hinterließen blutige Halbmonde auf der Handfläche. Sein Blut kochte als es rasend durch seinen zitternden Körper pumpte. Er wollte sich bewegen, das Adrenalin verbrauchen, die Wut und den Zorn hinausboxen. Er wollte wieder diese bleierne Erschöpfung fühlen, wenn er so müde war, dass er sich nur mühevoll und mit größter Überzeugungskraft nach Hause schleppen konnte. Oder zumindest zu der Unterkunft, die er gerade sein Zuhause nannte.
Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie die schöne Frau ihn fragend anschaute und wohl auf eine Reaktion seinerseits wartete. Sie schien ratlos und verwirrt zu sein. Ihr Stirn lag in Falten. Sie strängt wohl zu ersten Mal in ihren ach so tollen Blumenwiesenleben ihr kleines, nutzloses Gehirn an, dachte er und konnte ein leises, verächtliches Schnauben nicht unterdrückten.
Sein Blick wanderte weiter. Die hässliche Frau hatte ihren Blick gesenkt und starrte zwischen ihren Beinen wie in Gedanken versunken zu Boden. Für den Bruchteil einer Sekunden kam in ihm der Anflug eines schlechten Gewissens auf, weil er die eine hässlich nannte. Wieder sah er den erhobenen, belehrenden Finger seiner Eltern und Erzieher, die ihn immer wieder auf die richtige Ausdrucksweise hinwiesen. Ich denke nur die Wahrheit, rechtfertigte er sich selbst und hieß die kurzeilige Ablenkung von dieser abstrusen Situation mit offenen Armen Willkommen.
Irgendwann in der fünften Klasse hatte er aufgehört zu zählen, wie oft man ihn schon ermahnte und tadelte aufgrund der Dinge, die er von sich gab. Dabei hatte er nie verstanden, warum er den Max nicht ein Arschloch nennen durfte, er war schließlich eines.
Bei der Erinnerung malte sich ein schiefes Grinsen auf seine Lippen, ansonsten blieb er starr.
Was der Student aber noch mehr hasste als Zurechtweisungen, war Mitleid. Mitleid, weil sie Hund gestorben war, weil sein Großvater gestorben, weil er durch die Prüfung fiel, weil er sich das Bein brach. Immer kam dieses unerbittliche, nervtötende, unnötige Mitleid von allen Seiten. Und als er sich dagegen wehrte, um sich schlug und schrie, sie sollten mit dem Scheiß aufhören und er bräuchte nicht deren Mitleid, nahm man ihn in die Arme und gab ihm noch mehr Mitleid. Man sagte ihm, dass Aggressionen vollkommen normal wären und zur Trauer dazu gehören und dass es ihnen doch wahnsinnig leid tat – was auch immer passiert war.
Und genau so ein Mitleid lag nun im Blick der schönen Frau. Pures, unverblümtes Mitleid. Schämen sich Menschen eigentlich gar nicht dafür?, durchfuhr es ihn und er drehte seinen Kopf schnell in die entgegengesetzte Richtung bevor es ihm noch sauer aufstieß.
Er konnte es sich aber nicht verkneifen kurz zu der anderen Gestalt hinüber zu schielen. Ihr Blick war wieder aufgerichtet und sie bemerkte sehr wohl, dass er sie anschaute, denn ihre Augen waren eiskalt, zusammengezogen und ... wütend. Fabian Winter war verwirrt. Welche Recht hatte sie, wütend zu sein?
Aber er war froh, dass sie wenigstens kein Mitleid mit ihm zeigte, auch wenn sie ihm damit die gesamte Grundlage seiner Wut nahm. Er wollte schreien und fluchen, um sich schlagen und seinem Zorn freien Lauf lassen, aber da war nichts. Da war nur die eisige Kälte der hässlichen Frau, die ihn nach wie vor anstarrte und genauso unbeweglich dasaß wie er selbst.
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Seelenblut *on hold*
Mystery / ThrillerWohin geht man, wenn man sich selbst nicht mehr ertragen kann? Susan Clarks eigener Held verriet sie und mit ihm kamen all jene Personen zurück, die unter ihrer goldenen Feder starben. Die einst so groß gefeierte Autorin verlor den Halt, erlag dem...