4. Himmelsstrahl

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»Ich muss – es schaffen«, stieß der junge Mann zwischen zwei Atemzügen hervor, stolperte, fiel hin, stand wieder auf, machte weiter. Er konnte seine Träume nicht zerplatzen lassen wie die Seifenblasen im Gedicht, welches er in Dauerschleife in seinem Kopf hinunterratterte. Er hatte einen Weg fern von der eigentlichen Straße genommen, fern von der Bergbahn, fern von jeglicher Zivilisation. Schnaufend kämpfte sich Fabian Winter durch das Unterholz und hieß jeden Schmerz willkommen, der ihm durch entgegenschlagende Äste bereitet wurde.

Und über Erd' und Himmelsgrenzen erobernd greift

Des Geists unendliches Verlangen wie lange schon!

Der ehemalige Student hielt an. Seine Kräfte schienen ihn verlassen zu haben. Seine Brust hob und senkte sich in einem vor Anstrengung schnellem Rhythmus.

Seine Fantasie spielte ihm Streiche – er war kurz vor der Bewusstlosigkeit. Immer wieder tauchten Szenen aus vergangenen Tagen hervor. Fabian Winter stützte sich, in der Hoffnung, es würde gegen das aufkommende Schwindelgefühl helfen, an dem nächstbesten Baum ab. Aber sein Versuch war nicht gerade von Erfolg gekrönt.

Der Professor beendet die Vorlesung über Schopenhauers Mitleidsethik mit einem einfachen Nicken und entlässt die Studenten. Vier Semester schon, denkt sich der junge Mann, der in der letzten Ecke, nahe am Ausgang des Hörsaals, Platz genommen hat. Nun steht er auf, verstaut seine hingeschmierten Mitschriften in dem alten Armeerucksack und verlässt so schnell wie möglich den Raum.

Schnellen Schrittes läuft er den Gang hinab und sichert sich einen einsamen Platz in der Cafeteria. Nun, wo er hier allein sitzt und seine Gedanken wieder freien Raum zum Denken bekommen, kehren auch seine Zweifel wieder zurück. Wieso mache ich diesen ganzen Mist eigentlich?

Vier Semester lang studiert der einundzwanzig Jährige nun schon und mit jedem Tag wird es schwerer für ihn, die Vorlesungen wahrzunehmen. Er verliert in keinem Fall das Interesse, er versteht den Sinn nur einfach nicht mehr. Er hat dieses Studium begonnen, um zu lernen, seinen Geist zu befreien, doch die Regeln, Vorschriften und Erwartungen werden von Tag zu Tag schwerer und unerträglicher.

Seufzend erhebt er sich und verlässt eiligen Schrittes das Unigebäude. Er hat genug, ein für alle Mal.

Stimmen, Stimmen überall, um ihn herum, in ihm drinnen. Durcheinander, lauter werdend, und mit jedem Moment schwerer zu ertragen.

Der junge Mann schüttelte verzweifelt den Kopf, versuchte die beinahe zwei Jahre alte Erinnerung ein für alle Mal aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Er scheiterte.

Die Seele, die vom Hauch der Schönheit Befreiung hofft

Sieht sich von Reizen eingefangen wie lange schon!

Mittags, beim Essen in der Kantine, war noch alles soweit in Ordnung. Abends saß er dann alleine in seiner kleinen Wohnung auf dem Campus, die er so sehr hasste, nachts um zwei packte er seine Sachen und um vier saß er bereits in der Bahn in die Berge. Von Stuttgart aus fuhr der Zug nach Bayern, Berchtesgaden. Der Königssee war damals sein erstes Ziel gewesen – genauso wie heute. Heute wanderte er seine erste Tour erneut.

Wie ein halbes Jahr zuvor, hatte der junge Mann denselben Wanderweg genommen, der über die Eiskapelle, einem berühmten Gletscher, hoch zum Watzmann führte.

Langsam kam Fabian Winter wieder zu Atem und auch das Schwindelgefühl ebbte ab, der Lärm verstummte. Sein Blick schweifte zuerst durch den Wald, huschte über das Unterholz und wendete sich dann seinem eigenen Körper zu. Zittrig schaute er an sich hinunter, betrachtete beinahe fasziniert die aufgeschürften Beine und Arme. Zwei lange Wunden zierten seine rechte Wange. Er konnte das warme Blut spürend, dass an seinem Kinn hinunterlief, schlussendlich auf das T-Shirt tropfte und den Stoff in einem dunklen rot färbte.

Mich hat ein Himmelstrahl getroffen, der meinem Aug'

Entflittert hat der Erde Prangen, wie lange schon!

Manchmal gab es Momente, da wünschte er sich, er würde wie die anderen die normalen Pfade benutzen, doch fühlte er sich durch all die Massen und Schilder eingeengt und bedroht. Egal wie sehr ihn die Zweifel plagten, er verließ immer wieder so schnell wie möglich die offiziellen Wege.

Nach einer weiteren Stunde des Laufens lichtete sich die Landschaft und vor ihm breitete sich eine große, weite Schneedecke auf, umgeben von hohen, grauen Steinfelsen.

Fabian Winter hatte den Gletscher erreicht. Allerdings verweilte er nur kurz, bis er sich an den Aufstieg zum Watzmann machte

Wann wirst den Krieg der Selbstbefreiung du end'gen,

Den dein Licht in mir hat angefangen wie lange schon!

Halb kletternd, halb wandert kam er dem Gipfel immer näher, die steilen Abgründe zu seinen Seiten.

Weitere Stunden zogen ins Land, in denen der ehemalige Student nichts weiter hörte als das Rauschen des Windes, das Knacken seiner Schritte und seinen schweren Atem. Gelegentlich vernahm er das einsame Zwitschern eines Vogels, der sich in diese Höhen verirrt hatte. Doch dann sah er es. Dunkel und mächtig tauchte das große, hölzerne Gipfelkreuz vor ihm auf. Er hatte es geschafft. Hoch stand die Sonne am Himmel und ließ den Königssee zu seinen Füßen golden Glitzern.

Mit einem Grinsen auf dem Gesicht breitete er die aufgeschürften Arme aus, schloss die Augen und atmete einmal tief ein. Hier oben war er alleine, kaum jemand kam je hierher, dafür lag der Ort viel zu abgelegen. Niemand konnte ihm sagen, was er tun sollte – er war frei, endlich.

Langsam öffnete er wieder die Augen, in der Hoffnung, die Alpen zu seinen Füßen seien noch immer Realität und nicht verschwunden in den fliehenden Schwaden eines Traumes. Fabian Winter war dort, alleine und endlich frei.

Verklungen ist des Marktes Hader in dieser Brust,

Wo deine stillen Wort' erklangen wie lange schon!

Lächelnd betrachtete er seine Wunden und fühlte nach den Rissen in seiner Wange, ehe er sich auf den Steinwall setzte und sich an das Gipfelkreuz lehnte.

Mit jedem verstreichenden Atemzug wollte er sie erneut spüren, die Freiheit, wie sie ihn ausfüllte. Er musste.

Seelenblut *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt