Gähnende Dunkelheit vor ihr und um sie herum. Totenstille, dann vereinzelt ein Rascheln, ein Knarzen wie Metall auf Stein. Ein Stuhl. Ein unterdrücktes Husten, erneutes Rascheln. Das Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses. Ein verheißungsvolles Flüstern, ein Niesen.
Dann grelles Licht um sie herum, vor ihr konnte sie schemenhaft die Köpfe der ersten beiden Reihen erkennen, danach verschwand alles im tiefen Schwarz. Sie sah ein altes Paar direkt vor ihr, erste Reihe in der Mitte. Silbrige Haare, der Mann mit Schnauzbart. Die Dame hatte eine aufwendige Hochsteckfrisur. Beide trugen Abendmode – für sie. Ein kleines Kind, nicht älter als zwölf, saß mit verschränkten Armen hinter dem Paar. Herausgeputzt mit Anzug und Fliege, die Haare nach hinten gekämmt. Er wollte überall sein, nur nicht hier. Ein weiteres Paar, jung und verliebt, saß Hand in Hand in der zweiten Reihe. Die Perlen auf dem schwarzen Kleid der Frau funkelten in den schwachen Scheinwerferstrahlen. Sie lächelte erwartungsvoll. Eine Liebhaberin der Klassik.
Amélie Rions Blick schweifte weiter, einmal über das gesamte Publikum, versuchte die Schwärze zu durchdringen. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen, dann verbeugte sie sich höflich.
Euphorisches Klatschen durchbrach die anhaltende Stille, als sich die Scheinwerfer auf die Violinistin richteten. Sie senkte dankend und anstandsvoll den Blick, während ihr begleitendes Orchester weiterhin im Dunkeln saß. Die halbe Französin stand gerade auf der Bühne. In der Linken die Violine, in der Rechten den Bogen, den Blick gesenkt, die Arme locker an den Seiten, die lange Haare streng nach oben zu einem Dutt gebunden. Ein langes, schwarzes Kleid bedeckte den größten Teil ihres schlanken Körpers.
Als Amélie Rion erneut den Kopf hob und in das schwarze Publikum vor sich schaute, wurde es innerhalb weniger Augenblicke beinahe so still wie zuvor. Freudige Erwartung lag knisternd in der Luft. Hinter ihr setzte das Orchester leise ein und übertönte jegliche anderen Geräusche im Saal als es lauter wurde.
Mit geschlossenen Augen setzte Amélie Rion die Violine an ihr Kinn und fing an ihre Melodie zu spielen. Erinnerungen zogen an ihren Lidern vorbei. Die kleine Amélie in Paris, auf Mont Saint Michel, in Madrid, Barcelona, Rom und Venedig. In Prag, Wien, auf der Salzburg, in Berlin und der berühmten Oper in Dresden. In Kopenhagen, Oslo und in Reykjavik. Als Kind, als Jugendlicher, als junge Dame. Und nun hier – in Hamburg.
Ihre rechte Hand zitterte leicht und unbemerkt vom Publikum. Die junge Frau war nervös, ihr Herz pochte laut in ihrer Brust. Ihre Lider flackerten kurz auf, doch krampfhaft schloss sie sie wieder und versuchte sich ganz auf die Klänge zu konzentrieren, die sie erzeugte. Dann fingen die jahrelangen Erfahrungen in Proben wieder an Wirkung zu zeigen, sie wurde ruhiger. Die Französin hasste es auf der Bühne vor so vielen Leuten zu spielen. Auch wenn sie sie nicht sah, wusste sie, dass das gesamte Publikum zu ihr aufschaute, gespannt und erwartungsvoll.
Geige spielte die junge Frau, seit sie denken konnte. Amélie Rion hatte nie etwas anderes getan. Und sie liebte es, sie liebte die hellen, reinen Tönen, die klare Melodie. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, jedoch würde sie gerne die Bühne meiden. Die ganze Aufmerksamkeit, die Bewunderung, der gesamte Trubel um sie war ihr zuwider. Man feierte sie als Ausnahmetalent, als Wunderkind, verglich sie mit Mozart. Sie hasste es, dass sie niemals wirklich Kind sein konnte, dass sie niemals unbemerkt ausgehen konnte, dass Leute immer alles von ihrem Privatleben erfahren wollten – und wenn möglich noch all die schmutzigen Details. Die existieren nur leider nicht, dachte sie mit einem sarkastischen Unterton. Manieren und herausgeputztes Äußeres – zu jeder Zeit, immer. Sie hatte schon vor Beginn der Schule den Spielplatz gegen Proben und den Ausflug am Wochenende gegen Auftritte eingetauscht. Aber es gab ihr Möglichkeiten, Möglichkeiten, die andere nicht hatten. Und das würdigte sie.
Ihre Eltern förderten sie, forderten und unterstützen sie jeden Tag, doch Amélie tat all dies, all die großen Bühnenauftritte, die weiten Tourneen nicht für sie, nein, nicht für ihre Eltern. Ihr Großvater war ihre Motivation, ihr Halt. Für sein Lächeln würde sie alles tun. Er kannte den wahren Klang der Musik, er hörte sie wirklich.
Er war derjenige, der ihre Violine aussuchte, der die Verarbeitung des hochwertigen Holzes mit einem kritischen Blick überprüfte. Er drehte und wendete das Instrument, fühlte, wie es in den Händen lag, hörte ihren Klang, spürte, wie sie vor Leben leicht vibrierte, bevor er den Kauf absegnete. Er war derjenige, der ihr wirklich Mut zusprach, der versuchte zu so vielen Auftritten zu kommen, wie seine gebrechlichen Knochen ihm erlaubten. Und er saß stets vorne in den ersten Reihen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, welches ein nur ein stolzer Großvater seiner Enkelin schenken konnte.
Großvater, dachte die junge Violinistin und spürte, wie sie langsam ihre Ruhe zurückgewann und von ihr eingehüllt wurde. Der unverkennbare Duft seines Aftershaves drang in ihre Nase, die Würze eines guten, irischen Whiskeys.
1690 Plätze fasste die Hamburger Staatsoper – ausnahmslos ausverkauft. Und doch war sie die Ruhe in Person. Sie fing den hellen Klang ihrer eigenen Schaffung auf, verlor sich in den melodischen, entspannenden Oktaven, bis nur noch diese existierten.
Ihre kurz zuvor noch aufgewirbelten Gedanken klangen ab, verschwanden. Die ersten beiden Reihen verschwammen vor ihren halb geschlossenen Augen zu einer grauen Masse. Alles was blieb waren sie und die Musik, nichts anderes.
Sie hatte sich noch niemals wirklich gegen ihre Eltern gestellt, denn ihr Großvater war jedes Mal dort, in ihren Gedanken, und für ihn tat sie das. Für ihn ging sie auf die Bühne, ihn wollte sie stolz machen. Ihm widmete sie jede einzelne Komposition, damit die Welt ihn niemals vergessen würde. Ihn wollte sie unsterblich machen. Er war ihr Held!
Amelie Rion hatte noch nie widersprochen – und hatte auch nie vor, es jemals zu tun.
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Seelenblut *on hold*
Mystery / ThrillerWohin geht man, wenn man sich selbst nicht mehr ertragen kann? Susan Clarks eigener Held verriet sie und mit ihm kamen all jene Personen zurück, die unter ihrer goldenen Feder starben. Die einst so groß gefeierte Autorin verlor den Halt, erlag dem...