»Guten Abend. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, ratterte die junge Frau auf der anderen Seite der Rezeption ihre einstudierte Begrüßung herunter.
»Fabian Winter. Ich hatte vor einigen Stunden angerufen und ein Einzelzimmer von ihrem Kollegen reservieren lassen«, sagte der junge Mann ohne Umschweife, stellte seinen alten Rucksack zwischen seine Beine und lehnte sich mit einem Arm auf den dunklen Holztresen.
Er beobachtete, wie die Finger der Angestellten flink über die Tastatur des veralteten Computer flitzten und sich ihre Miene dabei immer skeptischer wurde. »Nein, tut mir leid, Herr Winter. Wir haben hier keine Reservierung auf Ihren Namen in unserem System.« Sie schaute auf.
Der junge Mann ließ einmal seinen Blick in der kleinen Eingangshalle schweifen, dann legte sich Ärger auf seine Züge. »Gibt es denn einen freien Raum wo ich für zwei Nächte einchecken kann?«, fragte er und ließ seine eingerissenen Finger auf das Holz trommeln.
»Nein, es ist alles ausgebucht, es sei denn sie wollen in dem alten Lagerraum schlafen. Tut mir unendlich leid, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, aber ich kann wirklich nichts für Sie tun.« Sie lächelte leicht, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen.
Versucht ruhig atmete Fabian Winter einmal tief durch. »Ich nehme auch besagten Lagerraum, wenn er groß genug ist.«
»Das war ein Scherz«, antwortete die Rezeptionistin kühl.
»Florian Fitzek war der Name ihres Kollegen, der mir ein Zimmer reservieren lassen wollte. Wäre er noch zu sprechen? Denn heute Abend finde ich kein Hotel mehr.«
»Der hat schon Feierabend, aber wenn Sie wirklich wünschen die Nacht in einem dreckigen Raum in einem alten Sessel zu verbringen: Ich werde Sie nicht davon abhalten, folgen sie mir.«
Der junge Mann mochte die Frau nicht. Ihre kalte, überhebliche Art. Ihr kläglicher Versuch, sich über ihn zu stellen der ihm nur ein müdes Lächeln abringen konnte. Zu viele Frauen hatten es schon vor ihr versucht. Und jedes Mal waren sie gescheitert, als er sie in ein Gespräch verwickelte. Was konnten sie schon mehr als mit ihrem blonden Kopf zu wackeln und unter schweren Lidern zu ihm aufzuschauen.
Er folgte ihr einen Gang entlang, zweimal um die Kurve und blieb schließlich neben ihr und vor einen alten Holztür stehen.
»Ihr Schlüssel«¸ sagte sie und reichte ihm die genannten. »Ich wünsche eine angenehme Nacht«, fügte sie noch kurz angebunden hinzu, drehte sich auf dem Absatz um und lief schnellen Schritten zurück zu ihrem Sitz an der Rezeption.
Weiber, dachte der ehemalige Student kopfschüttelnd, sah ihr noch einen Moment hinterher und öffnete dann die Tür. Was er erblickte war anders als erwartet. Die Abstellkammer war wohl vor Dekaden eine Art Bibliothek gewesen, die immer mehr Herberge für Krempel aller Art geworden war.
Er trat ein, schloss die Tür hinter sich, warf seinen Rucksack in eine Ecke und ließ sich schwungvoll auf den einen Sessel fallen. Dann wanderte sein Blick erneut analysierend durch den Raum.
Ein beschattetes Zimmer mit dunklen Wänden, Holz. Schwere Bilderrahmen, Temperagemälde von unbekannten und längst verstorbenen Künstlern auf vergilbter Leinwand. Künstler, deren Namen niemals irgendwo aufgetaucht waren und auch niemals bekannt werden sollten. Gemälde von Künstlern, die die Zeit verschluckt hatte.
Der Sessel auf welchem er saß war Jahrzehnte älter als er selbst. Geschwungene Füße, Stoffbezug. Die Farben waren kaum noch zu erkennen. Ein letzter Zeuge längst verstorbener Generationen.
Ein beinahe ebenso alter Röhrenfernseher stand in einer Ecke des Raumes, direkt neben dem schmierigen, einfach verglasten Fenster. Der Putz auf dem Sims dahinter fing schon vor Jahren an zu bröckeln und aufzuplatzen, doch es schien niemanden großartig gestört zu haben.
Ein indischer Teppich bedeckte einen Großteil der Holzdielen, aber er war in einer noch schlechteren Verfassung als der Sessel.
Alles in allem machte das Zimmer einen trostlosen Anblick. Alt und vergessen. Für den jungen Mann allerdings, der zusammengesunken in dem Sessel saß, war es das, was er gerade brauchte. Hier konnte er ein wenig seine Gedanken sortieren, auch wenn er wusste, dass der innere Drang ihn schon bald wieder hinaus und woanders hintreiben würde. Denn obwohl dieser Raum nicht mit seinen Wänden endete, sondern die Geschichten sich noch sehr viel weiter rankten, kam langsam das Gefühl der Enge wieder hoch. Doch noch konnte er es aushalten. Das Kinn auf der Brust liegend, die Augen geschlossen, gleichmäßig und bewusst atmend, glitt er langsam in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als die ersten Strahlen der Morgensonne wieder durch das verdreckte Fenster drangen, öffnete Fabian Winter wieder die schweren Lider und starrte die gegenüberliegende, dunkle Wand an. Er konnte immer noch jede einzelne der frischen Schrammen an seinem gesamten Körper fühlen. Es war kaum zwei Tage her, seitdem er die letzte, weite und kräftezehrende Wanderung hinter sich gebracht hatte. Und es fühlte sich so lebendig an. Ein schmales, müdes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, als er wieder in seinen Gedanken versank.
Der junge Mann wollte dieses Gefühl erneut spüren. Frisch und vor Leben pulsierend. Er wollte ein weiteres Mal das Adrenalin in seinen Adern fühlen, die Freiheit, die ihn durchströmte. Vollendung.
Des Frühlings Nachtigallen sangen wie lange schon!
Und Rosen auf der Flur entsprangen wie lange schon!
Seine Gedanken erinnerten sich an das Gedicht, welches, seit er denken konnte, gerahmt an der Wand im Haus seiner Großeltern hing. Manchmal schenkte es ihm Motivation, manchmal drängte es ihn weiter und manchmal brachte es ihm einfach nur Ruhe.
Abrupt stand er auf. Die tiefe Entspannung war fort. Die dunklen, alten Wände kamen näher und näher. Unaufhaltsam schoben sie sich auf ihn zu und versuchten in zu zerquetschen. Fabian Winters Atem ging schnell und hektisch, während er mit einem zittrigem Arm nach den durchgelaufenen Wanderstiefeln griff. Der andere tastete nach der dünnen Jacke.
Schwungvoll riss er die Tür der kleinen Wohnung auf und trat hinaus. Die goldene Sonne ragte kaum hinter den hohen Alpen hervor, so früh am Morgen war es noch.
Das Morgenrot hat blut'ge Fahnen an jedem Tag
Neu in die Welt hereingehangen wie lange schon!
Es kostete ihn kaum Zeit um von dem baufälligen Apartment zum Königssee zu gelangen, von dort aus die Fähre nach Sankt Bartholomä zu nehmen und den Wanderweg zum Gipfel des Watzmanns zu finden. Er tat dies bereits zum zweiten Mal.
Die Sterne sind am Himmelsbogen und Sonn' und Mond,
Vor Menschenblicken hingegangen wie lange schon!
Und Menschenaugen sind am Blicke von Sonn' und Mond
Wie Blumen auf- und zugegangen wie lange schon!
Er lief durch den Wald, lief und lief, immer weiter, immer fort. Trotz des dichten Laubdaches schafften es immer wieder Strahlen der glühenden Sonne durch die Krone zu brechen. Er schien von etwas gejagt zu sein. Etwas Großem, Mächtigem. Er lief jetzt schon seit Stunden, ein Gemisch aus rennen und stolpern. Sein Atem ging hektisch, unregelmäßig und schnell.
Und Menschenherzen von dem Atem des Lebens sind
Geschwellt mit Hoffen und mit Bangen wie lange schon!
Fabian Winter wollte es von sich wissen, wollte wissen, ob er es schaffen konnte – erneut. Alles was er tun musste, war das Gipfelkreuz erreichen, dort war er alleine, dort war er frei. Dort würde er an sich hinunterschauen und die neuen Kratzer und Schrammen betrachten und sich ein weiteres Mal gut fühlen.
Des Ruhms, der Herrschaft Seifenblasen am Sonnenlicht
Erhoben bunt sich, und zersprangen wie lange schon!
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Seelenblut *on hold*
Mystery / ThrillerWohin geht man, wenn man sich selbst nicht mehr ertragen kann? Susan Clarks eigener Held verriet sie und mit ihm kamen all jene Personen zurück, die unter ihrer goldenen Feder starben. Die einst so groß gefeierte Autorin verlor den Halt, erlag dem...