7. Ann

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"Hol mir ein Bier!" Seine raue Stimme durchdringt meine Ohren und ich weiß, was nun passieren wird.
Ohne etwas zu sagen laufe ich die kalten Treppen des Kellers hinunter. Es ist nicht das erste Mal. Ich greife nach einer der vielen Bierflaschen und betrachte sie. Sekunden vergehen.
"Wo bleibst du?!" Er wird ungeduldig. Ich habe Angst, dass er mir folgen wird. Ich wende mich von der Bierflasche ab und gehe die Treppen hoch.
"Du bist zu nichts fähig. Einfach ein dummes Kind!" Er kommt mir im Flur entgegen. Ich schnappe nach Luft, kann kaum noch atmen. Er sagt ständig solche Dinge. Immer und immer wieder. Alles um mich herum verschwimmt. Ein Schleier voller Tränen umgibt meine Sicht. Ich frage mich, ob jedes Kind so sehr von seinem Vater gehasst wird. Ob jedes Kind das durchleben muss, was ich durchlebe. Ob jedes Kind solch eine Angst vor seinem eigenen Vater hat, wie ich.  Ich möchte weglaufen, versuchen zu fliehen, um keine Angst mehr haben zu müssen, doch es geht nicht.
"Verpiss dich in dein Zimmer", er läuft hinüber zum Sofa. Zu dem schwarzen Sofa. Zu dem Sofa, an dem er mich das erste Mal angefasst hatte. Ich gehe die Treppen zu meinem Zimmer herauf, versuche klar zu denken. Hoffe, dass er mir nicht folgen wird, um mir eine reinzuhauen. Es bleibt ruhig.
Ich lege mich in mein Bett, frage mich, ob die Situation, in der ich mich befinde noch schlimmere werden kann. Frage mich, ob ich Mama etwas davon erzählen sollte. Doch dann käme ich ins Heim, hatte Papa gesagt.
Meine Tränen fallen in das weiche Kopfkissen. Ich kann mit niemanden reden.
Ich bin alleine.

'Deine Hure ist anwesend', dieser Satz versetzt mir genauso einen Stich in mein Herz, wie der Satz von meinem Vater, wie unfähig und nichtsnutzig ich doch sei. Denn diese Sätze stimmen nicht.
- Und wenn ich eines hasse, dann sind es Lügen!
"Zack, komm schon. Sie wird bald sicher gehen!" Der Typ lacht. Alle lachen. Alle außer ich und Rose.
"Man, halts Maul", aus der durchgeschwitzten Menschenmenge erscheint dieses Gesicht. Dieses Gesicht mit den blauen Augen und den blonden hochgestylten Haaren. Ein wundervolles Gesicht. Zack steuert auf mich zu, doch ich kann nichts tuen. Ich kann weder weglaufen, noch irgendetwas sagen. Ich kann nichts anderes tuen, als stehen zu bleiben und den Jungen anzustarren, der einfach nur heiß aussieht. Ich hätte Rose von Zack erzählen sollen. Sie verschwindet aus dem Raum, bevor Zack vor meinen Füßen stehen bleibt. Sie weiß, dass etwas los ist.
"Was machst du hier?" Seine Stimme ist rau und desinteressiert.
"Wieso fragst du?" Ich studiere ihn.
"Ich bin eine eigenständige Frau und brauche sicherlich niemanden, der darauf achtet, wo ich mich befinde." Ich lächle. Doch mein Lächeln ist alles andere als überzeugend.
"Interessant, dass du auf einer Party bist, obwohl du die Nacht davor fast vergewaltigt worden bist." Er lacht spöttisch. Mir vergeht das Lächeln. Das war ein mieser Spruch. Ein Spruch, der ins Schwarze getroffen ist.
"Wie bitte?!" Ich hole aus, doch entscheide mich dafür, die Hand wieder sinken zu lassen. Stattdessen stelle ich den roten Plastikbecher auf die Mamorarbeitsplatte und verschwinde aus seinen Augen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
"M..Moment! Ann, so meine ich das nicht. Verdammt!" Zack greift nach meinem Arm, doch er muss nicht sonderlich viel tuen, damit ich mich umdrehe und ihm in die Augen schaue. Ich tue es freiwillig.
"Wie meintest du es nicht?!"
Ich schreie ihn an. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich bin zu frustriert, als dass ich nachdenken kann, was aus meinem Mund kommt.
"Du meintest es genauso ernst, wie als du mir weißmachen wolltest, wie toll und hilfsbereit du doch bist. Dabei bist du einfach nur verlogen und hast dich einen Dreck drüber geschert, ob Brian im Restaurant wieder aufkreuzen könnte oder nicht!" Das Feuer in meinen Augen lodert.
"Moment mal." Setzt er an.
"Du machst mich dafür verantwortlich und meinst, dass ich deinen Beschützer hätte spielen müssen?" Er lacht nur.
"Nein, ich meine, dass du, wenn es dich eh nicht interessiert, mich nicht aus diesem Raum hättest herausholen sollen!"
"Also bist du der Meinung, dass ich auf dich aufpassen müsste, nur weil ich dir geholfen habe?" Sein Blick ist leer. Ich entdecke keinerlei Emotionen in seinem Gesicht. Weder in seinen Augen, noch an seinen Lippen.
Doch er hat recht. Und erst jetzt wird mir klar, wie dumm meine Reaktion eigentlich war.
Natürlich kann er nicht meinen Beschützer spielen und natürlich kann ich nicht von ihm verlangen, dass er 24 Stunden die Woche auf mich acht gibt.
Ich sage nichts. Es ist mir einfach nur peinlich. Mir ist es peinlich, hier zu stehen. Mir ist es peinlich, dass ich unrecht habe. Mir ist es peinlich, Zack für etwas verantwortlich gemacht zu haben, für das er keine Verantwortung trägt.
Ich schweige weiter, doch Zack wartet nach wie vor auf eine Antwort. Ich schüttle nur den Kopf. Etwas anderes bringe ich nicht zu Stande.
"Wieso tust du dann so?" Seine Stimme durchbricht die laute Musik, doch ich höre sie schon fast nicht mehr. Ich bin voll und ganz auf Zack und seine Worte fokussiert, dass ich das Hämmern des Basses nicht mehr wahrnehme.
"Ich weiß es nicht", sage ich kaum hörbar. Ich hoffe, er hat es nicht gehört. Ich würde am liebsten im Erdboden versinken. Würde am liebsten weglaufen und wäre am besten erst gar nicht hier aufgetaucht.
"Es tut mir leid, Zack" Ich sehe ihn an. Ich weiß, was er gerade denkt. Er denkt, ich sei komplett verstört. Komplett verrückt.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehe ich ihm den Rücken zu und gehe. Gehe geradeaus. Immer weiter. Weiter, bis die Menschenmenge sich irgendwann löst. Bis irgendwann kaum noch Leute um mich herum sind. Bis ich irgendwann aus der Haustür gehe und draußen bin.
Eine warme Abendluft umgiebt mich. Der Himmel ist klar und eh ich mich an dem Anblick des Sternenhimmels vertiefe, greift jemand nach meiner Hand.
"Bist du taub?" Einwildfremder Typ, den ich noch nie zuvor gesehen habe, erscheint vor mir, als ich mich umdrehe.
"Deine Tasche" Der Unbekannte reicht mir meine Tasche entgegen. Ich muss sie wohl in der Küche vergessen haben.
"Dankeschön", ich habe keine Lust auf weitere Unterhaltungen mit irgendwelchen Menschen. Allmählich zweifle ich an meiner Entscheidung, mich an dem College hier in Washington angemeldet zu haben. Bisher ist nichts so verlaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich habe es mir hier so viel einfacher vorgestellt. Ich habe gedacht, man würde mich hier freundlich empfangen. Doch der einzige Mensch, der mir letztendlich geblieben ist, ist Rose. Und selbst für sie bin ich sicher nur eine gute Bekannte.
Ich drehe mich um und laufe zu meinem Auto. Es ist mir egal, was Rose hier treibt. Ich werde gehen. Ich kann nicht hier bleiben. Nicht mit dem Gewissen, den Stempel als Hure zu haben.
Ich öffne die Autotür und steige in meinen weißen Ibiza ein. Doch losfahren kann ich nicht. Ich blicke hinüber zum Haus. Studiere jede einzelne Person, die sich in die Hecke des Gartens fallen lassen. Peinlich.
Der Eine ist betrunkener als der Andere. Ich erwische mich dabei, wie ich minutenlang ein Pärchen dabei zusehe, wie sie wie zwei Kletten aneinander haften. Und zum ersten Mal ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünsche, dass mich jemand genauso anfassen und lieben würde, wie der Typ es bei ihr tut.
Anders, als es mein Vater tat. Ganz anders. Es war nicht dieses grobe und gezwungene anfassen. Es war nicht dieses begrapschen. Die Berührungen des Pärchens sind liebevoll.
Das Zuschlagen meiner Beifahrertür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wusste es.

It's time to forget youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt